»Hast du Jack jemals in die Augen gesehen? Da ist nichts. Keine Regung, kein Gefühl, nicht einmal Hass.«

Jack Harper ist gnadenlos, schweigsam und tödlich.
Aufgezogen von einem skrupellosen Pharmaunternehmer, wurde er seit frühester Kindheit darauf gedrillt, das illegale Labor seines Ziehvaters zu schützen. Für Emotionen und Schwäche gibt es keinen Platz in seinem Leben. Das ändert sich erst, als Jack die Aushilfskraft Emily Stevens kennenlernt. Er lässt sich auf sie ein – und beginnt, an seiner bedingungslosen Loyalität zu zweifeln. Eine Entwicklung, die sein Ziehvater unter keinen Umständen akzeptieren kann.

Leseprobe Jack Harper: Erwachen (Die McLain Reihe 3)

Prolog
Detroit, Oktober 2013

Seine Kindheit roch nach altem Urin und getrocknetem Erbrochenem, unterlegt von dem allgegenwärtigen süß-herben Geruch von Marihuana. Die Erinnerung schien von dem abgetretenen Bodenbelag des Treppenhauses emporzusteigen wie Nebel vom Ufer der Westküste.
Unwillig schüttelte Jack den Kopf. Das war vorbei. Heute umgab ihn der Duft von teurem Parkett und Echtleder. Eisern hielt er an dem Entschluss fest, diesen Wohlstand nicht aufs Spiel zu setzen und doch ging er jetzt den Flur entlang. Denn es galt etwas zurückzugeben.
Schon früh im Leben war ihm klar geworden, dass alles einen Preis hatte. Er zahlte ihn seit seinem achten Lebensjahr, nachdem Owen Martin ihn aus dem Waisenhaus geholt und in das unterirdische Labor seiner Firma gebracht hatte. Es war jede Mühe wert. Jeden Schweißtropfen, jede Träne, selbst den Schmerz, der ihn nie ganz verließ. Denn dadurch konnte er dem Elend entfliehen und zu jemanden werden der respektiert wurde.
Der Gestank in diesem Treppenhaus schleuderte ihn jedoch zurück in eine Zeit, in der das Aufeinanderklatschen nackter Leiber und brünstiges Grunzen fremder Männer seine Einschlafmelodie gewesen war.
Schluss damit! Du hast gelernt deine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Verflucht sollst du sein, versagst du heute dabei! Achte auf die Unterschiede!
Hier lag zusätzlich etwas Chemisches in der Luft, ein Hauch von Crystal, den es in seiner Kindheit nie gegeben hatte. Der Verdienst der drittklassigen Hure, die sich seine Mutter schimpfte, hatte lediglich den Konsum billiger Drogen gestattet. Jeder kurze Rausch, der sie ihren Sohn vergessen ließ, war ihr recht gewesen. Von Crystal jedoch hatte sie die Finger gelassen, möge sie dennoch in der Hölle verrotten. Ihren Untergang hatte sie selbst herbeigeführt, den der Menschen hinter der Tür des Apartments 26 C würde Jack einläuten.
Vorausgesetzt sein Informant würde sich bei seinen Recherchen nicht als ebenso nachlässig erweisen, wie bei dem Schutz seiner Identität.
Unter der schwarzen Sturmhaube gestattete sich Jack den Anflug eines Lächelns. Er hätte den Namen seiner Quelle nicht kennen sollen, doch er machte keine Geschäfte mit Unbekannten und zahlte exorbitante Summen für das Enttarnen diverser Identitäten.
Auch die drei Männer vor ihm verhüllten ihre Gesichter. Jack war dennoch sicher, sie ahnten, dass er wusste, wer sie waren. Ebenso wie sie sich darüber im Klaren sein mussten, dass sie gut daran taten, sich davon nichts anmerken zu lassen. Wie er trugen sie schwarze Cargohosen und Jacken in derselben Farbe. Die Sohlen ihrer Kampfstiefel verursachten kaum einen Laut.
Er folgte Ihnen mit zwei Schritten Abstand, obwohl alles in ihm danach verlangte voranzugehen. Es lag ihm nicht das Schlusslicht zu spielen, aber die Männer handelten in seinem Auftrag, so war es an ihm, ihnen den Rücken zu decken. Obwohl es hier in dem düsteren, von Gott verlassenen Ort nicht viel gab, was ihnen gefährlich werden konnte. Trotzdem kein Grund nachlässig zu sein.
Lediglich ein leises Rascheln, hervorgerufen von ihren Bewegungen durchbrach die nächtliche Stille, die über dem baufälligen Gebäude lag. Das Licht von zwei Taschenlampen teilte die Finsternis um sie herum. Jack benötigte das Licht nicht, um zu erkennen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Dazu reichten ihm die kurzen Handzeichen der Männer und die Art, wie sie Aufstellung nahmen. Jeweils einer, zu jeder Seite der Tür, der Dritte davor.
Ein Tritt würde vermutlich genügen, das altersschwache Holz der Haustür zum Nachgeben zu bewegen, aber sie wollten keine Aufmerksamkeit. So wartete Jack geduldig auf das kaum wahrnehmbare Klicken, das zeigte, dass der dritte Mann das Schloss geknackt hatte.
Erneut musste er sich zügeln, damit er seinen Trupp vorangehen ließ. Ein Blick durch den Türspalt genügte, um ihm zu verraten, dass die einzige Gefahr in der Wohnung aus einer Infektion bestand, sollte er sich eine Verletzung einhandeln. Dennoch wartete er auf das Nicken des vorangegangenen Mannes, bevor er eintrat.
Jack musste seine Schritte mit Bedacht setzen, um nicht auf den Unrat zu treten, der jeden Fußbreit des Bodens bedeckte. Nur ein bläulicher Schimmer, der dem TV-Gerät entsprang, das von Müll umgeben auf der maroden Anrichte stand, beleuchtete das Zimmer. Der Tisch war überfüllt von Fast Food Verpackungen. Auf der einzigen halbwegs freien Fläche lag eine Crackpfeife neben einer Anzahl von Zellophantüten.
Jack verzog angewidert das Gesicht. Die Bewohner der Behausung setzten in der Tat Prioritäten. Was seine Aufmerksamkeit zu der größten Ansammlung Dreck in dem Apartment lenkte. Dem Paar, das regungslos auf dem verschlissenen Sofa saß. Das fettige Haar hing ihnen strähnig herunter, die fahle Haut war übersäht von offenen Ekzemen.
Jack war es gleich. Für ihn zählte ausschließlich, dass sie bewusstlos waren, und ihm nicht in die Quere kamen. Er ging zu dem Tisch und nahm zwei der Tüten an sich. Die untypische leicht bläuliche Farbe der Kristalle darin verriet ihm, dass die Apathie der beiden Kreaturen auf dem Sofa nicht vom Drogenkonsum herrührte. Crystal wirkte aufputschend, löste meist Aggression aus und dämpfte das Schmerzempfinden. Jacks Vorsorge hatte darin bestanden die Droge für das Paar mit einem betäubenden Zusatzstoff zu strecken. Ein Hoch auf im Labor erzeugte Drogen. Sie ließen sich so leicht manipulieren, solange die richtigen Kontakte zur Verfügung standen.
Er wandte sich einer weiteren Tür zu, vor der einer seiner Begleiter Stellung bezogen hatte. Behutsam drehte er den Türknauf. Ein Schwall abgestandener Luft schlug ihm entgegen, vermischt mit dem Gestank nach Fäkalien.
Während er das Zimmer betrat, hielt Jack unbewusst den Atem an. Auch hier lag genug Unrat auf dem Boden, um der städtischen Mülldeponie Konkurrenz zu machen. Nur ein schmaler Weg zu dem Gitterbett, das an der Wand stand, schien leidlich freigeräumt.
Angel Medows, anderthalb Jahre alt, sah ihm ohne erkennbare Regung entgegen. Hätte sie nicht geblinzelt, als er sich über das Bett beugte, wäre Jack überzeugt gewesen, zu spät zu kommen. Sie war so unterentwickelt, dass er sie für einen wenige Monate alten Säugling gehalten hätte, wenn ihm ihr wahres Alter nicht bekannt gewesen wäre.
Selbst als er sie hochnahm, erfolgte keine Reaktion. Dabei fiel Jacks Blick auf eine Stelle zwischen zwei Gitterstäben an der Wand. Die Tapete dort fehlte, abgekratzt bis auf den letzten Fitzel.
»Schmeckt beschissen, füllt aber den Magen«, brummte er mit einer Verbundenheit, die Jahrzehnte zurücklag.
Kein Gedanke, den er an sich heranlassen wollte. Es gab Wichtigeres zu tun. Frische Windeln standen weit oben auf der Liste, wie seine Nase ihm verriet.
Die Wut, die in ihm emporschoss, als er den verkrusteten Kot entfernte und die offenen Stellen der zarten Haut erblickte, hatte er erwartet. Die Stille hingegen, die diese Handlung begleitete, war ungewohnt. Die meisten Kinder fingen spätestens jetzt an zu brüllen.
Sorgsam kanalisierte Jack seinen Zorn, bewahrte ihn wie eine Kostbarkeit, in dem Wissen, ihn zu einem passenden Zeitpunkt heraufbeschwören zu können. Eine Fähigkeit, die er sich in jahrelangem Training angeeignet hatte. So zitterten weder seine Hände, noch war sein Herzschlag beschleunigt, als er das Mädchen aus Ermangelung an sauberer Kleidung in eine Decke hüllte und mit ihr das Zimmer verließ.
»Säubert die Wohnung«, wies er die wartenden Männer an. »Nichts, was an das Kind erinnert bleibt zurück.«

Kapitel 1 – Augen, so kalt wie Gletschereis
Jersey, November 2013

Sorgsam drapierte Emily die Kalbsleber-Crostini auf dem Silbertablett. Erst das Geräusch der Schwingtür riss sie aus ihrer Konzentration.
»Bist du soweit?«, fragte ihre Vorgesetzte Susan und ließ den Blick über die arrangierten Speisen schweifen.
Emily nickte stumm.
»Dann bring die restlichen Platten nach draußen zum Buffet, bevor du dich umziehst. Ich habe dir ein passendes Kleid in den Pausenraum gelegt. Dort kannst du dich auch umziehen. Bleib heute Abend im Hintergrund und achte darauf sofort nachzufüllen, falls etwas ausgeht, verstanden?«
Wieder nickte Emily. Übermäßig viele Worte lagen ihr nicht, lieber beobachtete sie, anstatt sich zu unterhalten. Wann das angefangen hatte, konnte sie nicht sagen, nur dass sie mit jeder neuen Enttäuschung umso genauer auf die Handlungen und Körpersprache ihrer Mitmenschen achtete.
So konnte Emily die Erwartungen ihrer Vorgesetzten bereits problemlos einschätzen. Die Worte ›unaufdringliche Perfektion‹ fassten sie gut zusammen. Etwas, das zu Emilys eigener Einstellung passte. Anders als der offen zur Schau gestellte Wohlstand und die Größe des Unternehmens, in dem sie seit Kurzem arbeitete.
Laut der Stellenanzeige suchte PharmaCorp eine Assistentin im Cateringbereich. Inzwischen wusste Emily, dass dies nur eine vornehme Umschreibung für die Bezeichnung ›Mädchen für alles‹ gewesen war. Sie wechselte Handtücher, füllte den Kaffeevorrat auf, sammelte Geschirr ein und spülte ab. Leider gehörte es auch zu ihren Aufgaben, auf den Empfängen auszuhelfen, die der Firmeninhaber Dr. Owen Martin regelmäßig gab.
Emily atmete tief durch, während sie den Rest der Häppchen in die große Eingangshalle trug. Die Stehtische, auf denen die Gäste später ihre Getränke abstellen sollten, während sie miteinander plauderten, hatte sie selbst angeordnet. Ebenso den Schmuck am Podium angebracht, die Tischdecken und Servietten, sowie die Blumengestecke besorgt.
Mit voranschreitender Zeit wurde sie immer unruhiger. Die ersten Gäste mochten in spätestens einer halben Stunde eintreffen und mit einem Mal fiel ihr jeder kleine Makel umso deutlicher ins Auge. Dort galt es noch eine Serviette zurechtzurücken, hier den Blumenschmuck zu ordnen, und irgendwie schien das elegante Cremeweiß der Tischdecken nicht zu den teuren Marmorfliesen zu passen. Mist! Sie und ihr nervositätsbedingter Perfektionismus.
Ganz ruhig Emily, es ist nur eine Firmenfeier, sagte sie sich. Man kündigt dir schon nicht, nur weil die Tischdecken nicht die ideale Farbe haben!
Um sich zu beruhigen, ging sie in den Pausenraum. Das schlichte beige Cocktailkleid, das dort für sie bereitlag, raubte ihr den Atem. Dem Logo des Designers nach, kostete es sicher mehr als ihre drei besten Outfits zusammen. Befangen zog sie es aus der Folie, die es gegen Schmutz schützte und schlüpfte hinein. Es passte wie für sie gemacht, ebenso wie die farblich darauf abgestimmten Schuhe, an deren hohe Absätze sie sich allerdings noch gewöhnen musste.
Für einen winzigen Moment gab sie sich der Vorstellung hin, das Kleid wäre tatsächlich extra für sie angefertigt worden. Dann schüttelte sie lachend den Kopf. Die Cinderella Rolle lag ihr nicht. Zu viel Aufmerksamkeit, zu viele gesellschaftliche Verpflichtungen, zu hohe Absätze.
Sie zupfte ein paar widerspenstige Strähnen ihrer dunkelblonden Haare zurecht, die sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt hatte, wobei ihr Blick auf die Uhr fiel. Fünfzehn Minuten vor sieben. Sie musste los! Mit ein paar stummen motivierenden Worten an sich selbst verließ sie den Gebäudekomplex der Bediensteten und begab sich zum Buffet.
Noch immer huschte ihre Vorgesetzte zwischen den Stehtischen umher und zündete die Kerzen an, während sich Emilys Kollegen vom Catering ebenfalls an ihre Plätze stellten. Dann öffnete sich die Tür des Aufzugs und zwei Sicherheitsmänner, gefolgt von Dr. Martin, traten heraus.
Vor ihrer Bewerbung bei PharmaCorp hatte sich Emily über die Firma und ihren Inhaber informiert. Sie wusste, dass Dr. Martin zweiundsechzig Jahre alt war, dennoch fiel es ihr schwer, das zu glauben. Der makellos sitzende Anzug betonte Schultern und Taille des Mannes und seine kerzengerade Haltung ließ ihn größer wirken. Auch seine Schritte besaßen eine Dynamik, die oft selbst den meisten jüngeren Menschen fehlte. Als sie den Blick seiner kühlen, hellblauen Augen auf sich gerichtet sah, nickte Emily höflich.
Er erwiderte die Geste und kam auf sie zu.
Unsicher blickte Emily sich um, aber es stand niemand hinter ihr. Sie schluckte angesichts der Welle an Autorität, die von dem Firmeninhaber ausging.
»Steht alles bereit?«, fragte Dr. Martin.
Sie räusperte sich. »Es ist alles fertig.«
»Gut, die Gäste treffen jeden Moment ein. Bieten Sie ihnen Getränke an, ohne den Leuten damit auf die Nerven zu gehen. Es liegt in unser aller Interesse, dass der heutige Abend erfolgreich verläuft.« Dr. Martin wandte sich zum Gehen, stockte dann aber und betrachtete sie noch einmal von oben bis unten. »Das Kleid steht Ihnen«, sagte er, bevor er sich endgültig abwandte.
Emily bemerkte wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Rasch senkte sie den Blick und wandte sich den Champagnerflaschen zu.
Nach und nach füllte sich die Halle mit den handverlesenen Gästen, was ihr keine Zeit ließ, sich weiter über das Lob von Dr. Martin zu wundern. Die Wagen, die Emily durch die große Glasfront heranfahren sehen konnte, trieben ihr den Schweiß auf die Stirn.
Damen in eleganten Kleidern schwebten an der Seite ihrer Smoking tragenden Begleiter herein. Untermalt von den klassischen Klängen des kleinen Orchesters, das auf der Empore platziert war, schlenderten sie herum, wobei ihr Schmuck mit dem Kerzenlicht und der dezenten Beleuchtung um die Wette funkelte. Vermutlich kostete eine einzige Halskette mehr, als Emily in einem Jahr verdiente, obwohl ihr Gehalt großzügig ausfiel.
Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Scheu legte und sie auf die Menschen zugehen konnte, um ihnen Erfrischungen anzubieten. Nach den ersten freundlichen Reaktionen entspannte sie sich etwas. So atmete sie erleichtert auf, als der Großteil der Gäste versorgt war und sie sich hinter das Buffet zurückziehen konnte. Wie angeordnet füllte sie die Häppchen rechtzeitig auf, doch hin und wieder ließ sie ihren Blick über die Menge statt über das Essen schweifen. Sich unterhaltend standen die Menschen herum und ließen sich über den neusten Klatsch und die Aktienkurse aus. Schon bald wurde es Emily langweilig ihnen zuzuhören. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie die gläserne Eingangstür erneut geöffnet wurde. Neugierig wer sich verspätete, wandte sie sich um.
Ein breitschultriger Mann betrat die Halle und obwohl er nicht größer war als die anderen, strahlte er eine Überlegenheit aus, der selbst die einflussreichen Geschäftsleute nichts entgegenzusetzen hatten. Seine grauen Augen überflogen aufmerksam die Anwesenden, wobei er keine Miene verzog. Kein Lächeln, kein höfliches Nicken, kein Anzeichen von nichtssagender Wertschätzung, wie sie in dieser Gesellschaft üblich war. Selbstbewusst zerteilte er die Menge, und hielt auf Dr. Martin zu.
Susan, die neben ihr stand, folgte Emilys Blick und presste gleich darauf die Lippen zusammen.
»Wer ist das?«, fragte Emily leise.
»Jack, Dr. Martins Sohn und sein zweiter Sicherheitschef. Ich weiß nicht viel über ihn. Keiner tut das.« Sie zögerte, dann flüsterte sie: »Es heißt, er kann sehr unangenehm werden.«
Emily beobachtete, wie Jack zu seinem Vater trat und ein paar Worte mit ihm wechselte. »Was meinst du damit?«, fragte sie dann.
Susan schnaubte. »Die Pharma-Branche ist kein einfaches Pflaster, aber seit Jack hier mitunter das sagen hat, hat sich noch kein Demonstrant vor die Firma gewagt. Diese Art von unangenehm.«
In Susans Worten lag deutliche Missbilligung, aber auch ein Hauch Bewunderung.
Letzteres konnte Emily nachvollziehen. Auch ihr fiel es schwer, den Blick von diesem Mann abzuwenden. Bewusst zwang sie sich, sich wieder dem Essen zu widmen. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass sie immer öfter zu dem Fremden – Jack – hinübersah.

Die falsche Höflichkeit der Smokingträger widerte Jack ebenso an, wie das tückische Lächeln ihrer Begleiterinnen. Wie üblich war sein Vater daher der Einzige, dem er Höflichkeit zollte, bevor er sich hinter ihm in Position stellte. Jack wusste, er würde sein Verhalten im Laufe des Abends ändern müssen.
PharmaCorp galt inzwischen als zweitgrößter Lieferant pharmazeutischer Produkte und er würde bald der stellvertretende Geschäftsführer sein. Also musste er sich unter die Menge mischen, Hände schütteln, lächelnd Small Talk halten und so tun, als höre er aufmerksam dem nichtssagenden Geplapper zu.
Doch jetzt war es seine Aufgabe eine stille Botschaft zu übermitteln, die lautete: Niemand legt sich mit Dr. Owen Martin an, solange sein Sohn hinter ihm steht.
Jack wusste um seinen Ruf und genoss ihn, hielt er ihm doch zumeist die lästige Nähe anderer Menschen vom Leib. Die zweiunddreißig Jahre seines Lebens hatten ihn gelehrt, dass er nicht für Dinge wie Vergnügen und Freundschaft taugte.
Ein aufdringliches Kichern ertönte in seiner Nähe und er musste sich beherrschen, nicht das Gesicht zu verziehen als Sophie Laval in sein Blickfeld trat. Platinblond, perfektes Make-up, makelloser Körper, von Beruf Tochter und entschlossen, den Erben von PharmaCorp für sich zu gewinnen.
Sie kam auf ihn zu, stoppte kurz, um ein paar Worte mit seinem Vater zu wechseln, bevor sie sich an Jack wandte und ihm die Hand auf den Arm legte.
»Wie schön, dass du es einrichten konntest, zu kommen.«
Er musterte sie von oben bis unten. Zu laut, zu aufdringlich, viel zu viel Schmuck. Vielleicht könnte sie ihm gefallen, wäre sie nur mit diesem glitzernden Halsband bekleidet. Die Arme über dem Kopf gefesselt, an einem Haken baumelnd, während sie für die Sünden ihres Vaters büßte. Bei der Vorstellung schlich sich unwillkürlich ein Lächeln auf seine Lippen.
Sie schien geschmeichelt und beugte sich noch ein wenig weiter vor, sodass er einen guten Einblick in ihr Dekolleté hatte.
»Mein Vater ist später noch zu einem Geschäftsessen geladen und muss früher gehen. Bereitest du mir die Freude und bringst mich später nach Hause?«
»Ich lasse dir einen Wagen rufen«, erwiderte er kühl.
Sie blinzelte, bevor sie abermals kokett lächelte und leiser erwiderte. »Nun, eigentlich hatte ich nicht vor, mit einem Chauffeur deines Vaters einen Schluck guten Weines zu genießen, Jack.«
Ihr lasziver Blick bewirkte einzig, dass er das Bedürfnis hatte sie an der schlanken Kehle zu packen und zu schütteln, bis die Gier darin erlosch. Er würde es langsam tun und es genießen. Irgendwann … Doch vorerst starrte er ihr so lange in die Augen, bis sie zur Seite sah und ihn kurz darauf stehen ließ.
Obwohl Sophie ihm für den Rest des Abends aus dem Weg ging, hatte Jack weiterhin das Gefühl beobachtet zu werden. Es dauerte eine Weile, bis er die Ursache entdeckte.
Sie stand beim Champagnerausschank, das Haar zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, aus dem sich bereits die ersten Strähnen gelöst hatten. Das beigefarbene Cocktailkleid betonte ihre Blässe. Ihre azurblauen Augen lagen unverwandt auf ihm. Selbst als er sie direkt anvisierte, um das Theater zu beenden, sah sie nicht fort. Anstatt der Vorsicht, die man ihm für gewöhnlich entgegenbrachte, stand unverhohlene Neugierde in ihrem Blick. Verärgert runzelte er die Stirn.
Erst da schien sie zu begreifen, dass sie Besseres zu tun hatte, als ihn anzugaffen und wandte sich ab.
Jack gab sich damit zufrieden und wandte sich wieder der Gesellschaft seines Vaters zu. Nach einer Weile ertappte er sich jedoch dabei, wie er überprüfte, ob die Angestellte ihre Lektion gelernt hatte. Zu seinem Ärger würdigte sie ihn keines Blickes mehr. Nicht einmal wenn er ihr den Rücken zuwandte, nahm sie Notiz von ihm. Er hatte ein Gespür dafür und die stählerne Ignoranz, die in völligem Gegensatz zu ihrem anfänglichen Interesse stand, nagte an ihm, ohne dass er sagen konnte warum.
Nach einer Stunde beschloss er, für klare Verhältnisse zu sorgen. Obwohl er seit einer unangenehmen Nacht vor über dreizehn Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt hatte, entschuldigte er sich bei Martin und machte sich auf den Weg zum Champagnerausschank. Er ignorierte die Kellner, die sich geschickt mit Tabletts voller gefüllter Gläser durch die Menge schlängelten und näherte sich dem Büffet.
Susan sprach gerade mit der Ursache seiner Frustration, doch bevor er die beiden erreicht hatte, verschwand sie durch die Hintertür in Richtung Küche.

»Das ist der Rest. Nachschub ist aber auf dem Weg«, erklärte die Dame vom Catering-Service, während sie Emily das letzte Tablett mit Obstspießen in die Hand drückte.
Emily nickte und wandte sich wieder der Tür zu. In Ermangelung einer freien Hand schob sie diese mit der Hüfte auf und hastete den Flur entlang. Als sie um die Ecke bog, stand sie plötzlich Dr. Martins Sohn gegenüber. Die scharfe Bremsung brachte das Tablett gefährlich ins Schwanken und zwei der Obstspieße landeten auf dem Boden.
Emily stieß ein ersticktes Keuchen aus. »Entschuldigen Sie. Ich hab Sie nicht gesehen«, stammelte sie, wobei ihr Herz mit einem Mal doppelt so schnell schlug.
Bevor er antworten konnte, stürzte Susan zu ihnen herein. »Wo bleibst du denn? Ich habe dir doch gesagt, dass …«
Jacks Kopf flog herum und Susan verstummte. Er nickte kurz in Richtung der Unannehmlichkeit am Boden. »Kümmern Sie sich darum!«
Susans Augen weiteten sich. »Das gehört nicht zu meinen Aufgaben.«
Jack hob eine Braue. Daraufhin machte Susan zögernd einen Schritt auf Emily zu, die sich wünschte, der Boden würde sich auftun und sie verschlucken.
Hilflos beobachtete sie, wie Susan sich sichtlich verärgert bückte, die Spieße aufhob und sie in den Mülleimer warf. Als sie zurückkam, nahm sie Emily das Tablett aus der Hand.
»Ich mache das schon«, stieß Emily hervor.
»Nein! Ab sofort bist du ausschließlich für den Champagnerausschank zuständig«, befahl Jack.
Seine Stimme, tief wie die Schlucht des Grand Canyons, ließ sie hoffen, dass er weitersprechen würde. Ihren Namen, das Glaubensbekenntnis, das Telefonbuch. Egal was! Hauptsache sie konnte ihn reden hören. Dieses grollende Timbre, welches in ihr den Wunsch erweckte, im Klang einer Stimme baden zu können.
Als sie bemerkte, was sie dachte, fuhr Emily herum und flüchtete in Richtung Keller. Der Champagner war sicher bereits knapp und wollte aufgefüllt werden!
Als sie mit einer Kiste davon zurückkam, stand Jack noch immer an derselben Stelle. Der Blick seiner eisgrauen Augen lag unverwandt auf ihr, während er auf sie zukam.
»Gib mir den Karton. Er ist zu schwer für dich.«
»Es geht scho…«
Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn er nahm ihr kurzerhand die Kiste aus den Händen und ging damit Richtung Empfangshalle. Emily blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
»Danke«, sagte sie leise.
Er warf ihr einen kühlen Blick zu. »Ab sofort sorgst du dafür, dass die Kellner das Zeug aus dem Keller holen. Deine einzige Aufgabe wird es sein die Gläser aufzufüllen.«
»Aber …«
Wieder erstickte sein Blick jedes weitere Wort. Obwohl sich ihr schlechtes Gewissen gegenüber Susan meldete, beeilte sich Emily, zu nicken. Immerhin stand es ihr nicht zu, dem Sohn ihres Chefs zu widersprechen.
Ihre Unsicherheit lautlos verfluchend, sah sie dabei zu, wie Jack den Karton unter den Tisch stellte und ohne ein weiteres Wort davon ging.
Sie musste gegen den Drang ankämpfen, ihm nachzusehen. Den Kampf verlor sie und wandte den Blick erst ab, als er bei seinem Vater ankam und zu ihr herübersah. Hastig tat sie so, als wäre sie vollauf mit ihrer neuen Aufgabe beschäftigt.
Stunden später verschwanden auch die letzten Gäste und Emily schlüpfte erleichtert aus ihren Schuhen. Ihre Füße schmerzten, was größtenteils an den ungewohnt hohen Absätzen lag. Die mussten für Masochisten erschaffen worden sein! Wenigstens waren all die reichen Leute – Jack – endlich weg und sie konnte sich etwas entspannen. Ständig hatte sie seinen Blick auf sich gespürte, es aber nicht gewagt, ebenfalls in seine Richtung zu sehen.
Susan war wütend genug gewesen, um bereits vor einer Stunde in den Feierabend zu verschwinden und Emily mit der Anweisung aufzuräumen, alleinzulassen. Inzwischen befanden sich nur noch das Sicherheitspersonal und ein paar Hilfskräfte, die in der Küche abspülten, im Gebäude. Zeit, an einigen der übrig gebliebenen köstlich aussehenden Häppchen zu naschen, die schon den ganzen Abend Emilys Appetit angeregt hatten.

Jack geleitete seinen Vater nach Hause und fuhr dann zurück in die Firma. Personalpläne mussten geschrieben, Schichten eingeteilt, und neue Hinweise zu der Suchaktion, die seit Jahren andauerte, überprüft werden. Etwas, dass er auch von daheim aus erledigen könnte, doch eine innere Unruhe trieb ihn zurück in die Firmenzentrale.
In der großen Halle herrschte angenehme Ruhe, lediglich ein paar Reinigungskräfte beseitigten noch die Spuren des Empfangs. Normalerweise gönnte er dem Personal keinen zweiten Blick, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie ihm alle bekannt waren. Nun jedoch stutzte er. Die Frau von vorhin flitzte noch immer emsig umher, um benutze Gläser in einer großen eckigen Schale zusammenzusammeln. Barfuß, mit einer Schürze über ihrem eleganten Cocktailkleid.
Er dachte nicht nach, als er zu ihr ging. »Es ist spät. Was tust du noch hier?«
»Ich arbeite?«
»Zieh dir deine Schuhe an, bevor du in eine Scherbe trittst.« Sie sah ihn so verwirrt an, dass ihm unvermittelt klar wurde, dass er kein Recht hatte, ihr solche Anweisungen zu erteilen. »Die Versicherung wird Probleme machen, solltest du dich verletzen. Wie lange bist du heute schon auf den Beinen?«
»Seit zwölf Stunden etwa«, murmelte Emily, während sie hastig wieder in ihre High Heels schlüpfte.
Die Art, wie sie dabei das Gesicht verzog, verriet Jack, dass sie es nicht gewohnt war sich in solchen Schuhen zu bewegen. Missmutig hob er eine Braue. Warum tat sie sich dann derartiges Folterwerkzeug an?
Als er an ihr hinabsah, wusste er es. Sie hatte umwerfende Beine in diesen Schuhen, leider auch geschwollene Knöchel.
Sie deutete seinen Blick falsch. »Die Arbeitszeit macht mir nichts aus. Ich bin ja auch fast fertig.«
»Du bist jetzt fertig«, beschied er ihr. »Wie kommst du nach Hause?«
Sie seufzte. »Mit dem Bus.«
»Du fährst nicht so spät in der Nacht mit dem Bus.« War sie völlig leichtsinnig? Wusste sie nicht, was für ein Gesindel um diese Zeit auf den Straßen unterwegs war? »Wer erlaubt dir, um diese Zeit allein auf den Straßen unterwegs zu sein?«
Egal wer, er würde demjenigen begreiflich machen, wie gefährlich das Leben war. Ob ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrem Freund, … Mann? Derjenige riskierte, dass sie überfallen werden könnte, was eine Krankmeldung und damit unnötige Kosten für die Firma zur Folge hatte.
»Es gibt niemanden, der mir vorzuschreiben hätte, was ich tun und lassen soll. Es ist nicht weit, aber ich kann mir kein Taxi leisten.«
Er runzelte die Stirn. »Die Firma zahlt gut. Also nimm dir einen Wagen.«
»Ich arbeite erst seit neun Tagen hier und bekomme mein Gehalt erst nächste Woche. Bis dahin wird der Bus reichen müssen.«
Neun Tage? Warum fiel sie ihm erst heute auf? Es gehörte zu seinen Aufgaben, über alles Bescheid zu wissen, was in diesem Gebäude vor sich ging. Offenbar wurde er nachlässig, was nicht tolerierbar war. Ebenso wenig wie sie um diese Zeit, mit dem Bus fahren zu lassen.
»Hol deine Sachen«, ordnete er an. »Ich fahre dich.«
Überrascht nickte sie und verschwand in Richtung der Umkleideräume des Personals. Mit einer dunklen Hose, einer gelben Bluse und Schuhen, die diese Bezeichnung auch verdienten, kam sie nur Minuten später zurück. Sichtlich unsicher blieb sie vor ihm stehen.
Wohlwollend nahm er zur Kenntnis, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die eine Ewigkeit brauchten um sich umzuziehen, auch trug sie kaum Make-up. Nicht, dass es ihn interessierte, es fiel ihm nur auf.
Ohne darauf zu warten, ob sie ihm folgte, drehte er sich um, verließ das Gebäude und ging zurück zum Parkplatz. An seinem Range Rover Evoque angekommen hielt er ihr gewohnheitsmäßig die Beifahrertür auf.
Er kutschierte ständig Geschäftspartner seines Vaters durch die Gegend. Die erwarteten ein Mindestmaß an solcher Arschkriecherei. Worauf er sich nur einließ, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.
Und jetzt lässt es sich nicht vermeiden, weil …?, fragte ihn seine innere Stimme.

Emily musste lächeln, als sie den Wagen sah. Er sah genauso aus wie Jack. Nicht sonderlich groß, doch mit einer ernst zu nehmenden fast bedrohlichen Ausstrahlung.
Es heißt, er kann sehr unangenehm werden …
Wie viel Wahrheit mochte in Susans Worten liegen?
Auf Gerüchte hatte Emily nie viel gegeben. Entschlossen, nicht ausgerechnet jetzt damit anzufangen, stieg sie ein. Dabei fiel ihr Jacks angenehmer Duft auf und sie vergaß, weiter darüber nachzudenken. Stattdessen vermied sie es, ihn anzusehen.
Es dauerte nur einen Augenblick, bis er den Wagen umrundet hatte, ebenfalls einstieg und losfuhr.
»Wie heißt du?«, fragte er dann.
Die Frage klang einstudiert, weshalb sie knapp antwortete: »Stevens, Emily Stevens.«
Er nickte, stellte sich aber selbst nicht vor. Ging er davon aus, sie müsste wissen, wer er war? Sie runzelte die Stirn, während er auf die Straße abbog.
Sein Fahrstil war aggressiv, aber keinesfalls leichtsinnig. Er raste nicht, doch er beschleunigte schneller und bremste schärfer, als es üblich war.
Emily warf einen Blick hinaus in die Nacht. Was war nur los mit ihr? Erst seine Stimme, dann sein Duft und nun machte sie sich auch noch Gedanken, wie er sich im Straßenverkehr verhielt. Sie litt eindeutig unter Hormonüberschuss. Zum Glück musste sie ihm den Weg zu ihrem kleinen Reihenhaus weisen, was sie von weiteren Grübeleien abhielt.
»Da ist es schon«, meinte sie schließlich und wies auf ihre Haustür.
Er musterte das kleine Gebäude aufmerksam. »Du wohnst hier nicht allein.«
»Doch. Warum?«
Jack warf ihr einen abschätzenden Blick zu. »Das Haus ist zu groß für eine Person, und somit zu teuer im Unterhalt. Du kannst dir kein Taxi leisten, aber ein Haus? Das scheint mir unvernünftig.«
»Ich habe es geerbt« erwiderte sie kurz angebunden und löste den Sicherheitsgurt.
»Du hättest es verkaufen können.«
»Es war das Haus meiner Eltern.«
»Und?«
»Noch weiß ich nicht wohin sonst. Ich will nicht mit zehn anderen in einem anonymen Wohnblock leben. Hier habe ich zumindest meine Ruhe.«
Sie bemerkte, wie Jack mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung überprüfte. Fast hätte sie den Kopf über sein merkwürdiges Verhalten geschüttelt. Sicher, die Häuser standen eng beieinander, aber nicht so dicht, dass sie keine Privatsphäre boten. Dichte Hecken trennten die einzelnen Parzellen. Diejenige um ihr Grundstück hatte dringend einen Schnitt nötig, doch sie hatte bisher noch nicht die Zeit dafür gefunden.
»Es ist nicht einbruchsicher«, stellte er fest und riss sie damit aus ihren Gedanken.
»Bei mir gibt es nichts zu holen.«
»Nichts zu holen?« Sein Blick bohrte sich in den ihren. »Was ist mit dir? Bist du nichts?«
»Nichts, was einen Einbruch wert wäre«, antwortete sie kühl, öffnete die Tür und stieg aus. »Danke fürs Fahren.«

Kapitel 2 – Aus der Traum

Jack wartete, bis Emily im Haus war, bevor er wendete und zurück zum Firmengebäude fuhr. Während er an seinem Schreibtisch saß, musste er die ganze Zeit an große blaue Augen denken, die ihn mit einer Mischung aus Neugierde, Entschlossenheit und Unschuld angesehen hatten.
Nichts, was einen Einbruch wert wäre …, hörte er Emily erneut sagen.
Er schüttelte den Kopf über ihre Naivität, während er die Einsatzpläne per Mail an seinen Stellvertreter schickte. Dann überprüfte er die Hinweise auf die Suchaktion. Die meisten führten ins Leere, nur eine klang vielversprechend, daher beschloss er, sich persönlich darum zu kümmern.
Während der gesamten Zeit ließ ihm Emilys Stimme in seinem Kopf keine Ruhe. Gegen vier Uhr hielt er es nicht länger aus. Zeit ihr eine Lektion zu erteilen. Sie achtete nicht auf sich, war geradezu fahrlässig leichtsinnig. Solch ein Benehmen war nicht im Sinne der Firma.
Kurzentschlossen fuhr er hinunter ins Labor, verließ dann das Firmengebäude, und machte sich erneut auf den Weg zu Emilys Haus. Er parkte seinen Rover ein Stück entfernt und näherte sich durch die Gärten der Nachbarn ihrem Grundstück.
Die Nachbarschaft lag noch immer ruhig und friedlich vor ihm. Nicht einmal ein Bewegungsmelder leuchtete auf. Waren hier alle so unvorsichtig? Oder lag ihnen nichts an ihrem Leben und der Sicherheit ihrer Familien?
Wie er es sich gedacht hatte, war Emilys Hintertür nicht gesichert. Das Schloss verdiente den Namen nicht. Es kostete ihn keine zwei Minuten, es zu knacken.
Lautlos bewegte er sich durch ihre Räume. Die Küche klein aber ordentlich, der Flur schmal, das Wohnzimmer mit altmodischen Möbeln eingerichtet, die nicht zu ihr passten, und voller Bücher.
Jacks Herz schlug ein wenig schneller, als er sich dem Raum näherte, in dem er ihr Schlafzimmer vermutete. Der Kitzel der Jagd nährte das Adrenalin. Viel zu lange hatte er das nicht mehr gespürt. Das dieser Reiz in diesem Haus wieder erwachte, erfüllte ihn mit Befriedigung.
Geräuschlos öffnete er die angelehnte Tür, zog den Stift aus der Gasampulle und ließ die Dose nahezu lautlos in den Raum rollen. Geduldig lauschte er dem leisen Zischen des Halluzinogens, das dem Behältnis entwich. Den Blick unentwegt auf seine Armbanduhr gerichtet, wartete er. Gerade lang genug, bis sich die Chemikalie ausreichend verflüchtigt haben würde, um keinen großen Einfluss mehr auf ihn zu nehmen. Der Raum, den er dann betrat, war kleiner als erwartet und in Weiß und Flieder gehalten.
Zart … Das Wort kam ihm als Erstes in den Sinn. Genau wie Emily es ist, stellte er fest, als er endlich neben ihrem Bett stand und sie betrachtete. Sein Blick folgte dem Umriss ihres Körpers, der sich deutlich unter der zu dünnen Decke abzeichnete.