Charactersofseptember2021 mit Ian Kelly

Mit #Charactersofseptember2021 geht die Challenge die in die fünfte Runde. Wie auch in den vorherigen Jahren beantworten die Protagonisten die Fragen. Wir haben uns in diesem Jahr für einen unserer wichtigsten Nebencharakter entscheiden: Ian Kelly.

Tag 1: Vorstellung
In seiner Jugend war Ian als Drogenkurier tätig. Einen Betrugsversuch bezahlte er mit seinem rechten Arm. Seitdem sann der Ire auf Rache und baute sich eine eigene Organisation auf, um diese Pläne umsetzen zu können.
Blake und Sam flüchteten zu ihm, nachdem sie nur knapp ihren Häschern entkommen konnten. Ian bildete die Jungen, damals 13 und 19 Jahre alt, aus und brachte ihnen bei zu überleben. Nur zu gerne würde Ian Sam in seiner Organisation aufnehmen. Doch bisher hat der jüngere der McLain-Brüder jedes dahin gehende Angebot abgelehnt. Dennoch wenden sich die Brüder auch heute nach, beinahe 15 Jahre später, meist an Ian, wenn sie etwas brauchen. Seien es Waffen, Bodyguards oder ein Alibi …
Ich (Quinn) habe mir einen Termin bei Ian geben lassen, um ihn für die Challenge zu befragen …

»Sie werden abgeholt. Folgen Sie den Anweisungen, machen Sie keine Dummheiten und zeigen Sie Respekt.«
So lauteten die Bedingungen, um überhaupt zu Ian Kelly vorgelassen zu werden. Obwohl ich nicht nur seine Autorin bin, ich habe sogar einen Termin!
Ich verziehe das Gesicht, während ich eine staubige Einfahrt hinauffahre und schließlich vor dem schäbigen Häuschen des Platzwarts stoppe. Dort schalte ich den Motor ab, bleibe noch einen Moment im Wagen sitzen und beobachtete die Umgebung. Es bringt mir nichts, außer der Erkenntnis, dass anscheinend jeder Trailerpark auf der Welt nach demselben Prinzip aufgebaut ist.
Ich will gerade aussteigen, da nähert sich ein silberner SUV und hält direkt neben mir.
Zwei hochgewachsene kräftige Kerle, gekleidet in dunkelblauen, unauffälligen Shirts und Cargohosen schälen sich aus dem Inneren. Obwohl sie keine Abzeichen tragen, schreit alles an ihnen ›Sicherheitsteam‹.
Reflexartig umklammere ich das Lenkrad und unterdrücke das Bedürfnis, die Türen zu verriegeln, als sie synchron ihre Köpfe drehen und ihre – natürlich durch Sonnenbrillen verborgenen Blicke, um ja auch jedes Klischee zu erfüllen – auf mich richten.
»Aussteigen, umdrehen und die Hände auf die Motorhaube«, befiehlt der Rechte der beiden ohne Umschweife.
Ich kenne Pornos, die fangen ganz ähnlich an, aber ich bin ja nicht zum Spaß hier. Also spiele ich die brave Autorin und befolge die Anweisung. Ich möchte ja nicht dafür verantwortlich sein, dass Anabolikaäffchen eins und zwei irgendeine Glaubenskrise erleiden, indem ich sie darauf hinweise, dass es mich einen Klick kostet, um sie in die ewigen Jagdgründe der überflüssigen Nebencharaktere zu befördern.
Offenbar sind sie zufrieden, denn nachdem sie mich gründlich abgetastet haben, lassen mich in den SUV steigen.
»Was glaubt der alte Ire eigentlich, wer er ist? Der verdammte Präsident?«, maule ich leise vor mich hin.
Das entlockt dem Fahrer tatsächlich ein flüchtiges Grinsen. »Der Präsident hat hier wenig zu melden.«
Ooookay, ich beschließe lieber die Klappe zu halten.
Der Wagen rollt an, und wir passierten Trailer um Trailer, die sich nur durch wenige Kleinigkeiten unterschieden: einer Wäscheleine, einem Sonnenschirm, hin und wieder einer Grillschale.
Im hinteren Teil des Parks erreichen wir schließlich einen Containerbau, der unter mehreren hohen Linden steht, und halten an.
»Aussteigen, höflich anklopfen und warten!«, befiehlt der Fahrer, ohne Anstalten zu machen, den Wagen zu verlassen.
So viel Aufwand für einen fünfminütigen Weg? Ich unterdrücke den Impuls die Augen zu verdrehen. Stattdessen steige ich aus und gehe auf den Container zu. Die Blicke der beiden Bulldozer im Fahrzeug verursachen mir dabei ein Prickeln im Nacken.
Nirgendwo war eine Klingel. Also schlage ich mit der Faust gegen die Tür. Erst dann sehe ich nach oben und bemerke die Kamera.
Der Mann, der mir öffnet, könnte ein Zwilling der beiden aus dem Wagen sein: dieselbe Kleidung, der gleiche grimmige Ausdruck auf dem Gesicht – und ein Pistolenholster sichtbar am Gürtel. Er sagt kein Wort, macht nur eine Kopfbewegung ins Innere der Behausung, als wäre es ihm vollkommen gleichgültig, ob ich hereinkomme oder nicht. Doch der Ausdruck in seinen Augen sagt etwas anderes. Ich bin sicher, dass diesem Mann keine Regung entgeht.
Dennoch trete ich entschlossen über die Türschwelle. Ich bin aus einem guten Grund gekommen! Das, was ich bisher gesehen habe, mag mir nicht gefallen, doch es bestärkt mich darin, dass die Entscheidung Ian auszuwählen richtig ist.
Erst als die Tür hinter mir geschlossen wird, fällt mir auf, wie kühl es im Inneren ist. Von der Hitze, die draußen die Luft wabern lässt, ist in dem dämmerigen Innenraum nichts zu spüren.
Ich blinzle und erkenne zwei Türen. Vor einer steht Anabolikafan Nummer vier und blickt mir scheinbar gleichgültig entgegen. Die andere steht offen und führt in ein geräumiges Zimmer, wo hinter einem klobigen Schreibtisch Ian thront.
»Hör auf zu starren und beweg deinen hübschen Hintern hierher«, poltert der Ire.
Ich hebe eine Braue. »Dein Benehmen war auch schon mal besser.«
Er schnaubt und fixiert mich aus seinen blauen Augen, die noch immer so wach schauen, wie in seiner Jugend. »Du störst meine Geschäfte und beabsichtigst, mich in die Öffentlichkeit zu zerren. Was erwartest du da?«
Touché.
»Ich zerre dich nicht in die Öffentlichkeit«, behaupte ich. »Ich möchte nur, dass du dich unseren Lesern vorstellst.«
»Vorstellen, huh? Wenn sie wirklich deine Leser sind, kennen sie mich bereits. Also, wozu der Unsinn? Und setzt dich hin, es macht mich nervös, wenn du auf mich herab starrst.«
Schweigend folge der Anordnung. Auch Ian schweigt. Ich starre ihn an. Er mich. Keiner von uns blinzelt.
»Ich habe Kinder«, sagte ich schließlich. „Das Niederstarren beherrsche ich im Schlaf.«
Für den Bruchteil einer Sekunde zuckt sein Mundwinkel. »Du hast mir Blake und Sam McLain aufs Auge gedrückt. Das hat mir nicht nur die ersten grauen Haare eingebracht, sondern mich auch Geduld gelehrt.«
Tatsächlich sind nur noch vereinzelte roten Strähnen zwischen dem grau in seiner akkuraten Kurzhaarfrisur zu erahnen. Er sieht beinahe aus, wie ein etwas grummeliger Großvater. Dennoch frage ich mich, ob er damit die Geduld eines Ersatzvaters meint oder die eines Mafiosos, der Jahre darauf verwendet hat sich einen fähigen Auftragskiller heranzuzüchten. Doch ich hebe mir diese Frage für später auf.
»Das Ganze hier wäre schneller vorbei, wenn du mitspielst. Also, stell dich doch einfach vor.«
Er greift zu der Karaffe mit der bernsteinfarbigen Flüssigkeit und schenkt – erstaunlich geschickt für jemanden, dem der rechte Arm fehlt – einen Fingerbreit davon in zwei Gläser. Eins schiebt er mir zu, greift selbst zu dem anderen.
»Ian Kelly, geboren am 07.012.1956 in Belfast, Nordirland. Größe 2,02 cm, Gewicht: 122 kg heute Morgen nach dem kac…«
»Das reicht fürs erste«, unterbreche ich rasch.

Tag 2: Wie groß ist deine Familie?
»Erzähl mir etwas über deine Familie«, versuche ich Ian zurück auf das Interview zu bringen.
Er schnaubt. »Meine Verwandtschaft ist so zahlreich wie Flöhe auf einem Straßenköter. Vermutlich besteht der halbe Trailerpark aus Cousins, Neffen Vettern zweiten oder dritten Grades.« Er hebt sein Glas, leert es, sieht mich dann auffordernd an. »Hast du Angst, ich könnte dich vergiften?«
»Muss ich die haben?«
»Humbug! Als ob ich jemanden hier so etwas antun würde.« Er macht eine Kopfbewegung Richtung Fußboden. »Das ist ein handgeknüpfter Perser.«
Im ersten Moment erkenne ich den Zusammenhang nicht. Als er mit dämmert, verziehe ich das Gesicht. Demonstrativ wende ich den Kopf Richtung Vorraum, auf dessen Boden kein bunter Teppich liegt, sondern leicht zu reinigendes Linoleum, bei dem sich niemand um diverse Körperflüssigkeiten sorgen machen muss.
»Du schuldest mir eine Antwort«, dringt Ians Stimme trügerisch sanft zu mir hindurch.
»Ich mag meinen Whiskey lieber on the rocks.«
»EIS? Das ist ein Irish Malt von Artful Dodger – ungefärbt und ungefiltert! Von dem wurden lediglich 291 Flaschen abgefüllt! Und du willst ihn verwässern?«
Rasch schüttele ich den Kopf, greife ebenfalls nach dem Glas und nippe dran. »Das ist … überraschend lecker.«
»Überraschend?«, grollt Ian. »Was glaubst du, was ich meinen Gästen vorsetzte? Spülwasser?«
Er winkt ab, als ich antworten will. Wahrscheinlich hat er beschlossen, dass es sich nicht lohnt, Worte an eine solch kulinarische Banausin wie mich zu verschwenden. »Erinnere mich daran, dass ich die niemals zu einer Familienfeier mitnehmen«, brummt er lediglich. »Meine Neffen würden dich für so viel Unwissenheit zuerst abfüllen und dann mit wasserfestem Stift das Gesicht anmalen, sobald du eingeschlafen bist. So wie wir es immer mit Onkel Eamon getan haben.«

Tag 3: Was bedeutet dir Familie?
Ian füllt unsere Gläser erneut mit Whiskey. Es ist beeindruckend, wie entspannt er in seinem Refugium wirkt. Noch immer liegt ein leises Lächeln auf seinen Lippen, was mit verrät, dass er in Gedanken noch immer bei seiner Familie ist.
»Meine Jugend in Irland, das waren Zeiten«, sagt er unvermittelt und bestätigt so meine Vermutung. »Nicht eine Tür in unserer Nachbarschaft war verschlossen. Überall gab es Scones, Sodabread, Brownbread, Cottage Pie und Stew. Zu Weihnachten zogen Weihnachtssänger von Haus zu Haus.« Er gluckst. »Wir haben sie mit Schneebällen vertrieben. Mein Vater schlief regelmäßig vor der Bescherung ein, nachdem er das letzte Geld beim Pokern mit seinen Brüdern verloren hat. Und meine Tante Eireann prügelte sich jedes Jahr mit ihrem Mann. Gute alte Zeiten.«
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Das klingt, als bedeute dir deine Familie sehr viel.“
Etwas blitzt in Ians Augen auf. »Nein, nicht viel«, sagt er. »Sie bedeutet mir alles. Die Blutsverwandte ebenso wie die Selbsterwählte. Jeder, der glaubt, diese Schwäche ausnutzen zu können, wird es bereuen.«

Tag 4: Wer war deine Bezugsperson als Kind?
Von einer Sekunde zur anderen ist das kalte Glitzern in Ians Augen verschwunden und er wirkt wieder wie es harmloser, wenn auch brummiger Großvater. Andererseits, es gab da schon einmal einen Mann, der harmlos wirkte, eine Katze auf dem Arm haltend, die er streichelte, während er sagte: „Irgendwann, möglicherweise aber auch nie, werde ich dich bitten, mir eine kleine Gefälligkeit zu erweisen.“
Diesen Mann zu unterschätzt hat sich als tödlich erwiesen. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, bei Ian ist es ebenso, auch wenn der Ire keine Katze hat. Auch kein Pferd, nebenbei bemerkt. Hm, ob seine Feinde wohl Pferde haben … hatten? Egal, ich schweife ab.
»Scheint so, als wäre bei euch immer einiges losgewesen«, komme ich zurück auf das Thema. »Wer war denn da deine Bezugsperson als Kind?«
»Meine Mutter und ihre älteste Schwester«, erwidert Ian, ohne zu zögern. »Ma wohnte Tür an Tür mit ihren drei Schwestern. Genau genommen hat sich unsere Familie über den halben Block ausgebreitet. So war auch immer jemand für uns Kids da. Und wehe, wir haben nicht gespurt. Tante Eireann hat nicht nur meinen Onkel verdroschen, sie war auch die Königin der Kopfnüsse. Ohren wie ein Luchs hatte sie ebenfalls. Ich bin bis heute überzeugt, sie konnte hören, wenn wie Steppkes auch nur die Augen verdrehten, nachdem wir etwas ausgefressen hatten und sie uns zur Rede stellte. Darum standen wir auch immer stramm bei einer ihrer Predigten. Nun, hinterher fütterte sie uns meist mit Apple Tart und Scones.« Er grinst. »Ich will nicht sagen, wir hätten öfter mal absichtlich Mist gebaut, um an ihre Aple Tart zu kommen, aber ich würde es auch nicht abstreiten.«

Tag 5: Welche ist deine glücklichste Kindheitserinnerung?

Ian tippt sich nachdenklich ans Kinn. »Das war, als mein Vater mir und meinem besten Freund ein Zelt mitbrachte, das er gefunden hatte. Dazu sollte ich erwähnen, wir hatten zwar eine riesige Familie und eine Menge Zusammenhalt. Geld hingegen war ständig knapp. Wie dem auch sei, Alrick und ich waren damals ungefähr fünf oder sechs Jahre alt – jedenfalls noch Hosenscheißer, die nicht mal in der Schule waren. Wir bauten das Zelt gemeinsam mit meinem Vater im Garten unter dem Apfelbaum auf und erhielten die Erlaubnis draußen zu übernachten. Abends grillte die ganze Familie bei uns vor dem Zelt. Selbst mein Großvater saß im Anzug auf einem Stamm und kauerte an unserem kleinen Feuer. Fidel und Flöte wurden hervorgeholt und wir sangen und tanzten die halbe Nacht lang. Irgendwann aber waren Alrick und ich allein dort draußen. Wir träumten von Heldentaten und Mutproben, aber als der erste Uhu schrie, hatten wir die Hosen so gestrichen voll, dass wir ins Haus schlichen. Erst am frühen Morgen, bevor alle anderen wach waren, sind wieder hinaus, damit niemand von dieser Schmach erfuhr. Ich glaube, bis heute weiß es keiner.«

Tag 6: Was war dein liebstes Spielzeug und warum?
»Hattest du außer dem Zelt, von dem du gestern erzählt hast noch andere Spielzeuge«, frage ich Ian. »Vielleicht sogar ein Lieblingsspielzeug?«
Seine Brauen wandern seine Stirn empor. »Spielzeug?«, grollt er. »Wenn du zugehört hättest, würdest du dich erinnern, dass Geld bei uns immer knapp war. Lieblingsspielzeug pah … wir hatten, was wir fanden. Einen Stock, eine alte Scheune, die Krücken vom Nachbarn. Wir suchten uns unser Spielzeug selbst.«

»Warst du gut in der Schule?«, will ich an Tag 7 von Ian wissen.
»Du lieber Himmel, nein. Ich habe so viele Streiche verübt, dass im dritten Schuljahr im Zeugnis der Vermerk ›Undiszipliniert‹ stand. Aber das war auch das Jahr, indem Alrick und ich es vielleicht ein wenig übertrieben haben.«
Er lacht und ich mag den Klang. Ein rumpelnder Laut tief aus seinem breiten Brustkorb. Selbst sein Schultern beben vor Amüsement. So habe ich ihn zuletzt gesehen, als er noch bei Juan war, aber das ist eine andere Geschichte, die ich jetzt, wo Ian tatsächlich mal gute Laune hat, nicht ansprechen werde.
»Zumindest haben unsere Lehrer uns als Disziplinarmaßnahme von der Samhainfeier ausgeschlossen, die in einem der Klassenzimmer stattfand«, fährt er fort. »Das hat uns so gestunken, dass wir das Luftgewehr meines Vaters gest… ausgeliehen haben, es aufzogen und den Lauf randvoll mit Juckpulver füllten. Dann schossen wir die Ladung durch das Schlüsselloch in den Klassenraum und nahmen die Beine in die Hand. Unsere Lehrer haben uns nicht erwischt. Aber mein Vater. Dem entging so schnell nichts. Er nahm mich ins Gebet und fortan schraubte ich die Streiche etwas zurück. Danach langweilte ich mich in der Schule fürchterlich. Aber ich respektierte meinen Vater zu sehr, um ungehorsam zu sein, denn er hat mich nicht geschlagen. Mehr noch, er bestärkte mich stets mir meinem freien Willen zu bewahren. Heutzutage mag das selbstverständlich sein, im Irland der sechziger war es das ganz und gar nicht.«

Tag 8: Wie war dein erster Kuss?
»Genauso abstoßend und faszinierend wie vermutlich bei jedem von uns«, sagt Ian und grinst breit.
»Geht es vielleicht ein bisschen ausführlicher?«
»Nein.«
»Ach komm schon …«
»Was? Ich soll mich zum Affen machen? Wofür?«
Ich schenke ihm meinen besten Autorenschmeichelblick. »Ich erzähl dir im Gegenzug wie der erste Kuss von Blake und Sam war.«
Nun habe ich seine Aufmerksamkeit. »Wird es den Bengeln peinlich sein, wenn ich sie darauf anspreche?«
Ich nicke.
»Na dann … Ich war in der 5. Klasse und wurde von Mädchen aus der Nachbarschaft gefragt, ob wir ›miteinander gehen‹ wollen. Damals war das für mich so gut wie ein Heiratsantrag und außerdem … sie hatte so niedliche Zöpfe und all diese entzückenden Sommersprossen. Also, ich fand sie bezaubernd und ja, ich wollte. Sie hat dann gesagt, ich müsse erst mit einem Kuss beweisen, dass ich sie liebe. Was wusste ich damals schon vom Küssen? Aber ich nickte, habe meine Lippen auf ihre gedrückt und das war es. Stolz wie Oscar hab ich das dann meinen Cousins erzählt. Sie fragen, ob ich das denn mit Zunge getan hätte.
›Zunge? Im Mund eines Mädchens?‹, fragte ich entsetzt, denn ich stellte mir das ziemlich ekelig vor. Aber ich wollte natürlich mitreden können. Also steckte ich mir am nächsten Tag ein Kaugummi in den Mund – ich wollte keinen fremden Mädchenspuckegeschmack auf der Zunge haben – und hab sie vor der Schule gefragt, ob wir mit Zunge küssen könnten. Sie wollte wissen, wie das ging. Also streckte ich meine Zunge raus, hab damit Kreise in der Luft gedreht, ganz so, wie meine Cousins es mir gezeigt hatten, und sagte: ›Sssooo ‹.
Nach dem Kuss hat sie mir gesagt, ich würde sabbern. Und zack, war ich wieder Single. Vorbei war es mit den Hochzeitsträumen und mein Kaugummi war ich auch los.«

»Was ist dir bei deinen Freunden wichtig?«, stelle ich Ian die frage an Tag 9.
Er antwortet ohne zu zögern. »Ehrlichkeit, Direktheit, Verlässlichkeit. Ich kann weder jemanden gebrauchen, der um mich herumtänzelt und mir Honig um den Bart schmiert, noch jemand, der ständig herumschwadroniert, anstatt gleich zum Punkt zu kommen. Was die Verlässlichkeit angeht … Ich bin ein fairer Mann. Jeder bekommt eine zweite Chance. Enttäuscht mich jemand einmal, wird du es überleben. Ein zweites Mal … « Ian verzieht die Lippen zu einem Lächeln, dass nicht ansatzweise seine Augen erreicht.

 »Lass es mich so sagen; der Ischiasnerv ist der dickste Nerv des menschlichen Körpers. Er zieht sich über die Rückseite des Oberschenkels und verzweigt sich auf Höhe des Knies in seine beiden Unterschenkeläste und leitet mit seinen sensorischen Anteilen Empfindungsmeldungen aus den unteren Extremitäten in das Zentralnervensystem. Angenommen, jemand würde den Ischiasnerv bei einem anderen Menschen ziehen wollen, so würde er ein sehr hoch dosiertes Schmerzmittel benötigen. Nehmen wir aber rein hypothetisch an, ich wäre  dieser jemand, und besagter andere hätte sich mir gegenüber zum zweiten Mal als unzuverlässig erwiesen«, Ian hob in einer entschuldigend wirkenden Geste den Arm, »dann würde ich das Schmerzmittel vergessen, dafür sorgen, dass er fixiert ist, seine Stimmbänder durchtrennen und ihm dann den Ischiasnerv ziehen.«


Tag 10:
Hast du eine/n beste/n Freund/in? Beschreibe sie/ihn.
Ians gestrige Aussage lässt mich noch immer schlucken, daher beschließe ich, das Gespräch auf unverfängliche Themen zu lenken.
»Du hast doch sicher einen besten Freund«, sagte ich. »Beschreibe ihn mir.«
Ian wirft mir einen mürrischen Blick zu. »Ich brauche nicht viel zu beschreiben. Er ist tot.« Er seufzt wehmütig. »Ich war gerade einmal 20, erst seit gut einem Jahr in den Staaten, als er mir, auffällig wie ein junger Stripper im Altersheim, über den Weg stolperte. Genauer gesagt hat er mir den Arsch gerettet. Ein verfeindetes Kartell hatte mich in der Wüste ausgesetzt.« Ian hebt seine Schulter. »Vorher hakten sie mir mit einer Machete den Arm ab. Das kommt davon, wenn man dealt, und glaubt, man könnte sich mit einer riesen Ladung Schnee absetzen. Sie haben mich erwischt, verurteilt und bestraft. Ein Mexikaner fand mich, band mir den Arm ab und schleppte mich zurück in die Zivilisation. Seitdem nannte ich ihn Bruder. Ich schuldete ihm mein Leben, konnte nachvollziehen, was er dachte und tat, konnte auf ihn vertrauen.« Er schüttelt den Kopf und unvermittelt liegt Eis in seinem Blick. »Ein Arschloch hat ihn umgebracht. Und obwohl es heißt, der Bastard wäre ebenfalls draufgegangen, habe ich noch immer ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Ich hebe es erst auf, wenn ich die Leiche des Dreckskerls mit eigenen Augen gesehen habe.«
Ich will gerade meine nächste Frage stellen, als eins der drei altmodischen Telefone auf Ians Schreibtisch ein schrilles Läuten von sich gibt. Der Ire wirft mir einen kurzen Blick zu und hebt wortlos ab.
Schweigend und bewegungslos lauscht er, bevor er sagt: »Gib mir die Nummer.« Er notiert sie, legt auf, klappt dann den Laptop vor sich auf und tippt etwas in die Tastatur. Anschließend holt er ein Handy aus der Schreibtischschublade, dass er über USB mit dem Laptop verbindet. Erst dann wählt er.
Offenbar wird sofort abgehoben, denn Ian schnarrt: »Was genau möchten Sie? … Spezialisten, soso. Dann fürchte ich, Sie sind falsch informiert, Mister Smith. Ich biete keine Dienstleistungen. Ich vertreibe Reinigungsmittel … Wer hat mich empfohlen?«
Was auch immer der unbekannte Anrufer daraufhin sagt, es bewirkt, dass Ian die Backen aufbläst. »Ich werde mich umhören. Allerdings erwarte ich eine Aufwandsentschädigung von 100.000 $. Schicken Sie mir die Hälfte als Anzahlung. Ich melde mich, wenn ich etwas finde.«
Er rasselt eine Kontonummer und legt auf.
Ich starre ihn an. »50.000 nur damit du dich umhörst?«
»Unkosten, Verwaltung … Das kostet nun einmal ein kleines Sümmchen.«
Ich verkneife es mir ihn darauf hinzuweisen, dass ich für ein solchen ›Sümmchen‹ über 3 Jahre arbeiten müsste.
Stattdessen stelle ich endlich die Frage von Tag 11: »Bist du optimistisch, realistisch oder pessimistisch und warum?«
»Realistisch. Nicht mehr und nicht weniger kann ich mir erlauben. Los, die nächste Frage.«
»Welche schlechte Angewohnheit möchtest du gerne loswerden?«
»Ich bin trotz besseren Gewissens nicht immun gegen Lust und Völlerei. Aber ohne ein wenig Dekadenz weiß man die Einfachheit der Dinge nicht wertzuschätzen, also, was soll’s. Jetzt mach weiter.«
»Für was hast du kein Verständnis?«
»Inkompetenz, Feigheit, Inkonsequenz, Lügen, Faulheit, soll ich weitermachen?«
»Bist du abergläubisch?«, will ich an Tag 14 wissen.
Ian schnaubt. »Ja und nein. Ich bin in einem Land aufgewachsen, indem du niemals einem Freund etwas Scharfes schenken darfst, da das Freundschaften zerschneidet. Du eine Glückssträhne haben wirst, wenn du einen halben Penny findest und dir ein Kampf bevorsteht, wenn deine Nase juckt. Wir Iren lassen in der gesamten Weihnachtszeit eine Kerze im Fenster brennen, weil wir überzeugt sind, dass sonst im darauffolgenden Jahr Pech in das Haus kommen wird.«
»Wir Iren?«, nehme ich den Faden sofort auf. »Du also auch?«

»Blödsinn«, brummt er. »Ich kann nicht mal mehr zählen, wie viele Messer ich bereits verschenkt habe. Und die waren scharf, das kannst du glauben. Aber es schadet auch nicht, in der Weihnachtszeit Kerzen brennen zu lassen. Dabei handelt es sich auch um ein Zeichen der Gastfreundschaft.Auch den Unsinn, dass es Glück bringt, wenn dir ein Vogel auf den Kopf kackt, glaube ich nicht. Was allerdings die Feen betrifft, an die in Irland auch heutzutage noch viele glauben …«
Mir bleibt der Mund offenstehen. »Du glaubst an Feen?«
Er zuckt mit der Schulter. »Nicht diese verniedlichten fluffigen Zuckerwattefeen, sondern die richtigen. Die, die sich rächen, wenn du sie störst. Das kann von schlaflosen Nächten bis zum Tod reichen.« Sein Grinsen hat etwas Diabolisches. »So gesehen bin ich eine Fee.«


An Tag 15 frage ich Ian ob er gerne ausgeht und wenn ja wohin.
»Ich bin fast 65. Was glaubst du, wohin ich gehe? Zum Tanztee vielleicht? Oder dass ich in einem Pub rumhänge? Dafür fehlt mir die Zeit, immerhin habe ich eine Firma zu führen. Allerdings schätze ich private Feiern. Ich bin nur nicht sicher, ob ich so häufig eingeladen werde, weil meine Anwesenheit so geschätzt wird oder weil sie meinen Schwarzgebrannten so lieben.«
»Du braust deinen eigenen Whisky?«
Ein straffender Blick trifft mich. »Brauen? Wer bin ich? Miraculix?« Ich hebe entschuldigend die Hände und Ian nickt gnädig und fährt fort. »Einmal im Jahr gehe ich tatsächlich aus. Weißt du wann? «
»Am Jahrestag deiner Rache wegen dem Verlust deines Arms?«
»Für wen hältst du mich?« Ian schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Erfolge gedenkt man traditionell am Neujahrstag. Ich rede von St. Paddy’s.«
»Dem St. Patrick’s Day?«
»Was denn sonst? Es ist einer der wichtigsten Tage im irischen Kalender. Weltweit feiern ihn jedes Jahr am 17. März Millionen Iren – und Menschen, die sich auf irgendeine Art und Weise mit der irischen Kultur verbunden fühlen. Für diesen Tag reise ich stets zurück in die Heimat und feiere ihn mit der ganzen Familie. Wir alle treffen uns bei meiner Maimeó, essen, trinken, singen, sehen uns die Parade an und gehen in den Pub. Es heißt, an einem willkürlichen Tag werden etwa 5,5 Millionen Gläser Guinness getrunken. Aber am St. Patrick‘s Day sind es ca. 13 Millionen Gläser. Schätze ein Viertel davon gehen auf meine Familie zurück.«

Tag 16: Wie geduldig bist du?
Ian greift nach seinem Whiskeyglas und nimmt einen Schluck. Auch danach lässt er sich Zeit mit der Antwort, wägt seine Worte sorgfältig ab. »Das kommt darauf an. Geduldig auf mein Geld zu warten? Nein. Geduld mit Menschen? Nein. Geduld zu warten, bis meine Pläne aufgehen? Endlos. Wäre es anders, würde ich heute nicht hier sitzen und die kleinen Bastarde, die mir den Arm abgeschnitten haben, wären bei ihren Familien, anstatt sich mit den Würmern zu unterhalten.«

Tag 17: Was macht dich glücklich?
»Ein Glas von einem guten Whiskey, ein paar alte Freunde und ein wenig in der guten alten Zeit schwelgen«, antwortet Ian. Dann seufzt er. »Ich denke zum Beispiel gern an den Tag zurück, an dem ich die McLainbrüder kennengelernt habe. Es war bei meinem alten Freund Juan, der in einem Trailerpark in New Mexiko lebte. Die Jungs waren seine Nachbarn und Blake hat für den alten Halsabschneider gearbeitet. Nur das legale Zeugs in Juans winzigen Landschaftsbaufirma. Blake war damals gerade achtzehn und Sam ein aufgeweckter Zwölfjähriger. Aber in seinem Blick lag etwas, was nicht in die Augen eines Kindes gehört. Ich wusste sofort, der Junge hat Potenzial. Leider hat er auch mehr Skrupel als eine katholische Betschwester in einem Pfaffenseminar.«
Die Mundwinkel des Iren heben sich zu einem winzigen Lächeln. »Ich mag den kleinen Wischmopp und es ist mir scheiß egal, dass er mich inzwischen in die Höhe geschossen ist wie eine Fichte, die in Dünger getunkt wurde.«
»Wischmopp?«
»Sam trug seine Haare schon immer etwas länger. Nun ja, zumindest gingen sie bis über seine Ohren. Also hab ich ihn Wischmopp genannt. Tue ich noch heute, wenn ich ihn ein wenig foppen möchte.« Ian gluckst. »Wir hatten eine Menge Spaß an diesem Tag.«

Tag 18: Sagst du immer, was du denkst?
Ian mustert mich. Völlig ruhig und ohne dass sich der Ausdruck in seinen Augen ändert. Noch immer wirkt er wie ein Großvater bei einem Plausch über idyllische Jugenderinnerungen. Dennoch fühle ich mich wie ein Käfer, der auf einer dieser ekeligen Insektentafeln zur Schau gestellt wird. Ausgeliefert, seziert, erforscht.
»Wenn ich immer sagen würde, was ich denke, würdest du nicht mehr hier sitzen, erwiderte er, und in seiner Stimme klirrt das Eis, was er in seinem Whiskey verabscheut.
Dann lächelt er und sofort ist das Gefühl des Unwohlseins verschwunden, bevor es sich in meinen Eingeweiden festsetzen kann.
»Sagen wir, ich weiß zu jeder Zeit ganz genau, was ich denke und wie viel davon ich preisgeben muss oder kann, um zu bekommen, was ich will«, fährt er freundlich fort. »Das ist ein Talent, dass ich mir viel früher hätte aneignen sollen. Ich gestehe aber dennoch ein, dass ich stolz darauf bin, es zu beherrschen. Die meisten Menschen sprechen, ohne zu wissen, was sie denken. Und falls sie es doch einmal wissen, finden sie selten den richtigen Zeitpunkt, um ihre Gedanken in Worte zu fassen.«

Tag 19 beschäftigt sich mit der Frage: Was kannst du nicht wegwerfen?
Wieder gibt Ian dieses spöttische Schnauben von sich, dass ich inzwischen als typisch für ihn empfinde.
»Ich bin nicht sentimental, was ich nicht brauche, kommt fort. Was bringt es, sich an Dinge zu klammern? Allerdings … « Für einen Augenblick wirkt er nachdenklich, und ein fast schon wehmütiger Ausdruck huscht über sein Gesicht. »Es gibt da eine besondere Flasche Whiskey, die mein Vater mir vererbt hat. Aber dabei geht es nicht um Sentimentalität, sondern um das Gedenken an schwerere Zeiten. Und … Ach verdammt, was soll‘s. Vielleicht bin ich doch ein wenig sentimental …«

Tag 20: »Hast du Angst vor dem Tod?«, frage ich Ian.
»Was bist du? Mein Psychiater?«
»Deine Autorin und als solche …«
»… solltest du die Antwort auf derartige Fragen kennen.«
»Vielleicht will ich es ja von dir hören?«
»Vielleicht will ich ja nicht antworten.«
»Vielleicht will ich dich aus der Geschichte schreiben. Du bist ein alter Mann mit einem sehr gefährlichen Leben.«
»Glaubst du wirklich, ich würde den Tod fürchten?«
»Sag du es mir.«
»Ich habe verdammt noch mal Angst vor dem Sterben. Vor einem langsamen Dahinsiechen und weder vor noch zurückzukönnen. Mein Großvater starb auf diese Weise. Ein Mann wie ein Baum aber dabei so feine Manieren, wie ich sie selten bei anderen erlebt habe. Und dann zack – Schlaganfall. Der hat ihn gefällt. Binnen Wochen welkte er dahin. Konnte sich nicht mehr rühren, nicht sprechen, trug Windeln. So möchte ich nicht enden. Doch den Tod selbst fürchte ich nicht.«
Erneut greift er zur Flasche, füllt unsere Gläser und hebt seines.
»Auf das Leben. Und darauf, dass ich nur selten zweite Chancen vergebe. Vielleicht solltest du das bei deiner Befragung berücksichtigen.«

»Bist du das geworden, was du früher werden wolltest?«, frage ich Ian für Tag 21.
Er lacht polternd. »Beileibe nicht. Ich wollte bei der Bank arbeiten wie mein Großvater. Er war ein aufrechter Mann, immer gut gekleidet mit einer Zigarrenschachtel im Jackett. Als ich noch ein Kind war, brachte er bei jedem Besuch Süßkram mit. Als ich älter wurde, steckte er mit öfter einen Schein zu. Ja, er war ein guter Mann«, wiederholte er, wobei er ein wenig nachdenklich wirkte. »Nun, den Weg zur Bank habe ich nie gefunden, und wenn ich mir diese heuchlerischen Institutionen heute anschaue, bin ich auch froh darüber.«

Tag 22: »Was magst du an seiner Arbeit – wenn man es denn so nennen kann – und was nicht?«
Ian verengt die Augen. »Warum deutest du an, was ich tue, wäre keine Arbeit?«, knurrt er.
»Ich wollte dich nicht beleidigen …«
»Dazu hast du weder das Recht noch die Mittel.«
Ich würde den Teufel tun und den alten Iren provozieren. Immerhin brauchte ich ihn noch. »Das ist mir bewusst«, erwiderte ich daher.
Er musterte mich und obwohl es nur Sekunden dauern konnte, kam es mir vor wir eine Ewigkeit. Dann nickte er.
»Meine Arbeit ist ehrlich. Vermutlich nicht auf eine Art und Weise ehrlich, wie ein anständiger Bürger es definieren würde. Aber bei uns herrschen Gesetze, die befolgt werden. Immer und unter allen Umständen. Es sind härtere Gesetze, vielleicht sogar falsche. Aber bei uns betrügt keiner den anderen. Zumindest nicht zweimal.«

Tag 23: »Wie endete deine letzte Beziehung?«
Ian lehnt sich zurück. Ich kann formlich dabei zusehen, wie er dichtmacht. »Das geht niemanden etwas an. Sie endete eben.«

»Aber …«
Bevor ich weiterreden kann, zieht Ian eine Schublade seines Schreibtisches auf und legt eine Waffe auf die Tischplatte. Beinahe zärtlich streicht er mit den Fingern über den Lauf, der wie zufällig auf mich gerichtet ist.
»Weißt du, was das ist?«, fragt er dann.
Ich schlucke. »Tödlich?«
Er gluckst. »Das auch. Aber genau genommen ist es eine Black Mamba-X mit aufgesetztem Red-Dot-Sight von Volquarsen. Ausgestattet mit einem Vortex Razor Minireflexvisier und ohne Grundplatte montiert. Sie zeichnet sich im Vergleich zu früheren Modellen durch die extreme Leichtigkeit der Demontage aus, mit einem einfachen Knopf anstelle des berüchtigten umständlichen Demontagehebels. Und sie ist das, was ich als meine verlässlichste Beziehung bezeichne.«

Tag 24 fort: »Wen hast du zuletzt geküsst?«
Ian sieht mich ausdruckslos an. »Was für ein Format ist das hier eigentlich?«
Ich entschließe mich nicht darauf einzugehen und mache mit der Frage für Tag 25 weiter : »Was aus deiner Vergangenheit bereust du?«
Anstatt weiter das matte Material der Pistole zwischen uns zu liebkosen, greift Ian nach seinem Glas. Faszinierend, wie sehr solche simplen Gesten die Spannung zwischen uns reduzieren.
»Es gibt vieles, was hätte besser laufen können. Aber so ist das Leben. Man lernt aus Fehlern und dann macht man weiter. Etwas zu bereuen kostet viel Energie, die einem bei aktuellen Handlungen fehlt und vom Hier und jetzt ablenkt. Das ist nicht nur in meiner Branche tödlich.«

»Auf was bist du stolz?«, frage ich Ian an Tag 26.
»Auf den Mann, der ich geworden bin. Auf das Wissen, das ich mir angeeignet habe und auf die Familie aus Getreuen, die ich mir aufgebaut habe.« Für eine Sekunde heben sich seine Mundwinkel und ich komme beinahe auf die Idee, er könnte lächeln. So ein richtiges, ernst gemeintes Lächeln. »Außerdem auf diese zwei Bengel, die einst obdachlos und hilflos wie zwei Welpen vor meinem Schreibtisch standen«, fährt er fort. »Es hat gedauert, und ich musste ihnen des Öfteren in ihren verweichlichten Hintern treten, aber letztendlich haben sie bewiesen, dass sie auf sich aufpassen können.«

Tag 27: »Wann hast du zuletzt etwas zum ersten Mal getan?«
»Gerade gebe ich zum ersten Mal ein Interview. Zählt das?«, brummt er. »Übrigens: Ich hoffe, es war auch das Letzte.«

Tag 28: »Für was hättest du gerne mehr Zeit?«
»Für nichts. Die Zeit ist so knapp bemessen, damit wir weise wählen, womit wir sie verbringen.« Er sieht so demonstrativ auf seine Uhr, dass mich das Gefühl beschleicht, er könne irgendwie auf mich anspielen. »Ich möchte keine Sekunde mehr haben«, sagt er dann und ich atme vorsichtig auf. »Denn sonst kommen am Ende noch mehr Leute auf die Idee, ich wäre derart unterbeschäftigt, dass ich ihnen stundenlang Rede und Antwort stellen könnte.«

Tag 29: »Ian, was macht dein Zuhause eigentlich zu deinem Zuhause?«
Er verdreht die Augen und genehmigt sich ein weiteres Glas Whiskey. Als er auch mir nachschenken will, lege ich rasch die Hand über das Glas und schüttle den Kopf. Mir ist bereits leicht schwindelig und ich möchte in Ians Gegenwart auf keinen Fall die Kontrolle verlieren.
»Hast du vielleicht auch einen Kaffee?«
»Mit Whiskey?«
„Nein, mit Milch.«
Ian stöhnte auf. »Aus dir wird niemals eine Irin.«
»Das stand bisher auch nicht in meinem Lebensplan.«
»Dann wirst du auch niemals begreifen, was ein Zuhause zu einem Zuhause macht.«
»Probier’s doch mal.«
Er sieht mich abschätzend an. »Der scheppernde Lüfter«, sagt er dann.
»Ich meine es ernst.«
»Ich sagte doch, du wirst es nicht verstehen. Das Scheppern gehört zu diesem Büro, so wie die Wäschespinne mit der durchhängenden Leine zum Grundstück nebenan. Der Sonnenschirm im Garten, der leise quietscht, wenn es windig ist. Oder die Grillschale, die wir hin und wieder auch für ein kleines Lagerfeuer benutzen, sodass sie leicht angerostet ist. All diese Dinge, die nicht perfekten Kleinigkeiten sind es, die ein Zuhause erschaffen.«

Tag 30: Welches Ziel möchtest du unbedingt erreichen?
»Ich habe erreicht, was ich wollte. Ein stabiles Netzwerk, ein wenig Einfluss, Menschen, denen ich trauen kann und ausreichend Mittel, um meiner erwählten Familie ein angenehmes Leben zu sicher. Das beizubehalten ist mein Ziel.«
»Ein gutes Ziel«, stimme ich zu, obwohl ich ahne, dass da noch mehr hinter steckt. Aber ich verkneife es mit zu bohren. Denn da liegt immer noch eine Waffe auf dem Schreibtisch. Stattdessen sage ich: »Danke für deine Zeit«, und will aufstehen.
Doch er hält mich mit einer Handbewegung zurück.»Nicht so schnell. Du schuldest mir 1000 $.«
»Bitte was?« Ich blinzle. »Davon war nie die Rede. Ich lasse mich von dir nicht über den Tisch …«
Ians flache Hand kracht auf die polierte Tischfläche, sodass die Telefone in die Luft springen.
»Achte auf deinen Tonfall, junge Dame! Glaubst du, meine Zeit ist kostenlos zu haben?«
Junge Dame? Ich bin mehr als … egal.
»Ich habe keine 1000 $«, schnappe ich.
Seine Braue klettert seine Stirn empor. »Und das, obwohl du Autorin bist?«
»Eher weil ich es bin,. Hast du eine Ahnung, was Lektora…«
»Denkst du, ich hätte meine Hausaufgaben nicht gemacht?«, fällt er mir ins Wort. »Ich kenne deine finanziellen Verhältnisse.«
Verdammt, das hätte mir klar sein müssen.
Für einen Moment bohrt sich der Blick des Iren in meinen. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Aber auch ich schulde dir etwas«, gesteht er.
Na bitte, er hat eben doch ein …
»Daher bin ich bereit auf den Betrag zu verzichten. Im Gegenzug wirst du mir gelegentlich einen kleinen Gefallen tun.«
»Gefallen?«
»Nichts, was dich in Schwierigkeiten bringt. Wie gesagt, ich zwinge niemanden, mich zu unterstützen. Aber hin und wieder könnte ich ein paar zusätzliche Augen und Ohren gebrauchen.« Er zieht ein Handy aus seiner Schublade hervor und reichte es mir. »Also wirst du für mich erreichbar sein. Dann sind wir quitt.«
F***! Aus dieser Sache komme ich so schnell nicht mehr raus. Wenn ihr also nichts mehr von mir hört …

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