
#Charactersofseptember geht in die vierte Runde und wie auch in den vergangenen Jahren antworten bei dieser Challenge die Protagonisten. Wir haben uns gedacht, ihr möchtet vielleicht etwas mehr über Emily Stevens aus der McLain-Reihe erfahren. Sie hat es derzeit nicht leicht …
Vorsicht Spoilerwarnung! Wer Band 3 noch nicht kennt, sollte hier nicht weiterlesen. 😊

Tag 1: Stell dich vor.
Emilys Atem flog in flachen, viel zu schnellen Zügen über ihre Lippen. Der Stoff, der ihr über den Kopf gestülpt war, roch muffig und gab ihr das Gefühl, lediglich die von ihr bereits verbrauchte Luft in ihre Lunge zu ziehen. Mühsam stolperte sie voran, behindert von Schwindel und Desorientierung. Nur die Hand, die ihren Arm wie ein Schraubstock umklammerte, hielt sie aufrecht.
Dann wurde sie zurückgehalten und ebenso wie ihre Schritte stoppten, stockte auch ihr Herz. Nur, um dann mit der Geschwindigkeit schlagender Kolibriflügeln gegen ihre Rippen zu hämmern.
Ein Quietschen drang an ihre Ohren, gefolgt von einem leisen Schaben, wie von einer schweren Tür, die geöffnet wurde.
Der Atem der Männer erschien ihr lauter, im selben Maß wie sie weitergezerrt wurde. Raschelnde Kleidung, Bewegung um sie herum. Schwere Stiefel auf einem glatten Boden, hallende Schritte. Wie eine Vibration in ihren Knochen.
»Vorsicht, Treppe.«
Bereits die erste Stufe wurde Emily beinahe zum Verhängnis. Sie strauchelte, wäre gefallen, hätte der Griff um ihren Arm sie nicht gehalten.
»Bitte, lasst mich gehen«, wisperte sie.
»Komm weiter!«
Sie gab nach. Jede Stufe verschluckte ihre Hoffnung. Jeder Schritt nahm ihr den Atem. Der Abstieg erschien ihr wie der Pfad in den sicheren Tod, während sie daran dachte, wie Jack ihr einst widerwillig und mit leerem Blick von den Laboren erzählt hatte.
Wieder ein Halt, erneutes Schaben, nachmaliges voran zerren.
Dann wurde Emily nach unten gedrückt. Sie schrie auf. Sekundenbruchteile im freien Fall dehnten sich zu Ewigkeiten.
Kaum berührte ihr Hintern eine glatte Oberfläche, wurde ihr der Sack vom Kopf gezogen. Grelles Licht blendete sie, brachte ihre Augen zum tränen.
Klack. Klack.
Eng schloss sich der Stahl um ihre Handgelenke. Verband sie mit dem Kunststoff der Armlehnen.
Sie blinzelte heftig. Erkannte dann, dass das Licht von einer Kamera stammte, deren stummes Auge auf sie gerichtet war. Dahinter, kaum sichtbar im Schatten, die Silhouette einer massigen Gestalt.
Sie erkannte ihn an seiner Stimme. Dem kalten Ton, befehlsgewohnt, rau, wie Kiesel, die aneinander rieben.
»Es gibt jemanden, der mehr über dich erfahren will. Also wirst du brav die Fragen beantworten, dann passiert deinem Sohn nichts.« Er trat ins Licht. »Du hast fünf Sätze, um dich selbst vorzustellen. Fang an!«
Die Erwähnung Kadens ließ sie jeden Gedanken an Verweigerung vergessen.
»Mein Name ist Emily Stevens, ich bin 27 Jahre alt und wurde entführt.« Sie blinzelte erneut in die Kamera, diesmal, um die Tränen zurückzuhalten. Um nichts auf der Welt würde sie ihren Entführer die Genugtuung verschaffen, sie weinen zu sehen. »Als mein Vater überraschend starb, habe ich das College abgebrochen und bin zurück zu meiner kranken Mutter nach Jersey gezogen, um sie zu pflegen. Nach ihrem Tod habe ich verschiedene Jobs gehabt, um die Schulden tilgen zu können, die mir meine Eltern hinterlassen haben. Damit ich mein Elternhaus behalten kann, bewarb ich mich um eine Stelle als Aushilfskraft bei PharmaCorp, wo ich auf Jack traf.« Ihr Blick wird fest, während sie einem der Männer, die sie und ihrem Sohn aus ihrem Haus gezerrt und verschleppt haben, in die Augen sieht. »Er wird uns finden und dann Gnade euch Gott, denn Jack wird keine kennen.«
Tag 2: Wie bist du aufgewachsen?
Das Weinen ihres Sohnes mahnte Emily, ihre Entführer nicht zu provozieren. Dennoch streckte sie den Rücken durch. Wenn sie diesen Leuten schon Rede und Antwort stehen musste, wollte sie es aufrecht tun.
»Äußerlich betrachtet verkörperten wir das Ideal des amerikanischen Mittelstandes«, begann sie zögernd. »Die Eltern beide berufstätig. Ein Haus, zwei Kinder. Es fehlte im Grunde nur der obligatorische Hund, um jedes Klischee zu erfüllen. Bevor die Probleme bei uns anfingen, hatte meine Mutter für jeden ein Lächeln, ein offenes Ohr und einen guten Rat parat.
Mein Vater hingegen war eher pragmatisch. Auch er war da, wenn jemand Hilfe benötigte, fasste mit an, wann immer es nötig war. Hielt sich aber ansonsten aus den Problemen seiner Mitmenschen heraus. ›Nicht mein Keks, nicht meine Krümel‹, sagte er oft. Daran versuche ich mich ebenfalls zu halten, was ein ziemlicher Widerspruch zu meinem Bedürfnis zu helfen darstellt.
Manchmal fühlt es sich an wie ein Spagat über einen Abgrund. Möglicherweise liegt es daran, dass ich versucht habe, es immer alles Recht zu machen, nachdem alles den Bach runter ging.
Ich war sechs Jahre alt, als die Streitereien begangen. Anschließend haben mein Bruder und ich jahrelang dabei zugesehen, wie sich meine Eltern auseinandergelebt haben. Sie blieben zusammen, weil sie sich, bedingt durch Glauben und Trauschein, dazu verpflichtet fühlten. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Ihre Streitereien oder die Gleichgültigkeit, die sie später allem gegenüber zeigten. Auch meinem Bruder und mir gegenüber. Rayen war zu der Zeit mein einziger Halt.«
Tag 3: Was ist deine früheste Erinnerung?
»Der Boss will wissen, wie du aufgewachsen bist. Was für ein Mensch seinen Enkel möglicherweise in den nächsten Jahren erziehen soll«, sagte Emilys Entführer im gleichgültigen Ton.
»Möglicherweise?«, fuhr sie auf. »Kaden ist mein Sohn und ich lasse nicht zu, dass …«
»Er bleibt bei dir, solange du kooperierst und er überzeugt ist, du wärst ein guter Umgang. Also, Frage drei …« Er las diese bescheuerten Fragen echt von einem Zettel ab. »Was ist deine früheste Erinnerung?«
Emilys Gedanken überschlugen sich.
›Bring sie dazu, dich als Menschen wahrnehmen, nicht als Objekt. Dann fällt es ihnen schwerer, dir etwas anzutun, dich zu foltern, zu missbrauchen oder gar zu töten.‹
Jacks Stimme in ihrem Kopf, so klar, als würde er neben ihr sitzen. Was auf eine merkwürdige Art tröstlich war.
Emily räusperte sich, brachte ein winziges Lächeln zustande, als sie direkt in die Kamera sah.
»Als ich ein Kind war, hat meine Mutter viel mit mir gebastelt. Ich erinnere mich an eine kleine Flasche voll rotem Glitzer, der mich total faszinierte. Damals war vielleicht drei oder vier Jahre alt und in einem unbeobachteten Moment gelang es mir, die Flasche zu verstecken. Abends, als ich eigentlich schlafen sollte, habe ich dann den gesamten Glitzer in meinen Haaren verteilt, damit ich aussehe wie Arielle, die kleine Meerjungfrau. Obwohl wir meine Haare mehrmals wuschen, habe ich noch wochenlang geglitzert und das Zeug überall verteilt, wo ich mich aufhielt.«
Tag 4: Bist du mit deiner Familie ausgekommen? Stehst du ihr nahe?
»Von der Familie meiner Kindheit ist niemand mehr übrig, dem ich nahestehen könnte«, erwiderte Emily ruhig. »Doch meiner jetzigen Familie – meinem Sohn und meinem Mann – stehe ich so nahe, dass ich bis zum letzten Atemzug kämpfen werde, um sie zu beschützen.«
»Sicher wirst du das.« Die Stimme ihres Entführers troff vor Sarkasmus. »Wir sehen ja gerade, wie gut das funktioniert, nicht wahr?«
Emily bemühte sich, ihn zu ignorieren. Erneut erinnerte sie sich an Jacks Ratschläge, sollte sie je in eine solche Situation geraten: Stell dich darauf ein, dass die Entführer dich schikanieren, einschüchtern und verhöhnen werden. Folge trotzdem allen Anweisungen und versuchen dir deine Würde zu bewahren.
Tag 5: »Schauen wir doch mal, ob du überhaupt imstande gewesen wärst für deinen Sohn zu sorgen.« Emilys Kidnapper grinste. »Erzähl uns, was du werden wolltest, als du ein Kind warst. Und was letztendlich aus dir geworden ist.«
Emily befeuchtete sich die trockenen Lippen. Sie würde alles für ein Glas Wasser geben.
›Verhalt dich passiv kooperativ! Sei nicht aufmüpfig, spiel nicht die Heldin! Denn wer unkooperativ oder feindselig ist, provoziert die Kidnapper – und riskiert bestraft zu werden.‹
Sie schluckte, als sie sich an diesen Ratschlag erinnerte und versuchte die Stimmung des Mannes vor ihr einzuschätzen, während sie antwortete.
»Ich habe schon immer gerne gemalt, daher stand für mich früh fest, dass ich bildende Kunst studieren möchte. Nachdem meine Eltern gestorben sind, erfuhr ich allerdings, wie hoch mein Elternhaus durch Hypotheken belastet ist. Es ist nichts Besonderes. Alt, mit zu vielen Räumen, von denen die meisten zu klein sind, aber ich bin darin aufgewachsen. Rayen und ich waren hier glücklich, als wir noch Kinder waren. Darum wollte ich das Haus nicht verlieren und nahm jeden seriösen Job an, den ich bekommen konnte, anstatt weiter zu studieren. Dann entdeckte ich die Stellenausschreibung von PharmaCorp auf der Firmenwebseite und habe online eine Bewerbung eingereicht. Laut der Stellenanzeige wurde eine Assistentin im Cateringbereich gesucht. Inzwischen weiß ich, dass dies nur eine vornehme Umschreibung für die Bezeichnung ›Mädchen für alles‹ gewesen ist.« Kurz huschte ihr Blick zu ihren Entführern. Sie hob das Kinn. »Ich bereue nicht, diese Arbeit angenommen zu haben, auch wenn sie mich letztendlich an den Punkt brachte, an dem ich jetzt bin.«
Tag 6: »Der Boss will etwas über deine Weltanschauung wissen.«
Emilys Entführer verdrehte die Augen als wäre ihm dieses Interview ebenso suspekt wie ihr. Dennoch las er brav die nächste Frage von seinem Zettel ab. Gut zu wissen, dass auch er nicht mehr als ein Wachhund an einer langen Leine zu sein schien.
»Hattest du irgendwelche Vorbilder? Wenn ja, beschreibe sie.«
›Erinnere sie daran, dass du ein Mensch bist. Mit einer Vergangenheit, mit Gefühlen, Wünschen Hoffnungen. Lass nicht zu, dass sie dich zu einem reinen Gegenstand degradieren.‹
»Mein Bruder Rayen war mein Vorbild«, sagte sie daher. »Er war zehn Jahre älter als ich und ich habe ihn von klein auf bewundert. Er war immer geduldig mit mir, obwohl ich ihm ständig nachgelaufen bin. Nie wurde er laut oder gab mir das Gefühl, ihn auf die Nerven zu fallen. Ich durfte sogar mit in sein Baumhaus, obwohl es für ihn und seine Freunde ein Rückzugsort war, in dem Mädchen nicht erlaubt waren.«
Erneut gelang ihr ein zaghaftes Lächeln, als sie sich in der Erinnerung verlor, die ihr erlaubt ihre aktuelle Lage für einen Moment zu vergessen.
»Rayen brachte mir bei, auf Bäume zu klettern, und erzählte mir Geschichten voller Abenteuer. Im Grunde war er es, der meine Liebe zu Büchern weckte, denn ich wollte immer mehr Geschichten. So viele, dass ihm irgendwann die Ideen ausgingen und er mir das Lesen beibrachte, noch bevor ich in die Vorschule kam. Angefangen mit einzelnen Buchstaben, dann einfache Wörter. Ich war so neugierig auf die Welt und er erklärte mir alles.«
Tag 7: Was hat dich erwachsen werden lassen?
Emily schluckte schwer, als diese Frage sie unvorbereitet traf.
»Der Suizid meines Bruders«, gestand sie leise. »Danach war ich wie von einem Panzer umgeben, der alles von mir fernhielt. Vor lauter Angst, dieser Panzer könnte sich auflösen, fing ich an zu trinken. Ich wollte nichts fühlen müssen. Erst als ich ohne Erinnerung an den vergangenen Abend in einer Lache meines eigenen Erbrochenen erwacht bin, wusste ich, dass ich was ändern musste, wollte ich nicht ebenso enden wie mein Bruder. Also zog ich von zu Hause aus, brach den Kontakt zu meinen Eltern ab und hörte auf zu trinken. Ich begann mein Leben in meine eigenen Hände zu nehmen und suchte mir einen Studienplatz. Ich begann mein Leben in meine eigenen Hände zu nehmen und suchte mir einen Studienplatz. Glaubte tatsächlich, eine Zukunft zu haben. Dann starb mein Vater und ich warf meine Pläne über den Haufen.«
Das Lachen ihres Entführers klang gehässig. »Der Boss wird nicht begeistert sein, dass die Mutter seines Enkels sich als Alkoholikerin outet.«
Emily sah ihm fest in die Augen, obwohl sie sich innerlich krümmte. »Ich habe seit Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt.«
Tag 8: Emilys Entführer grinste, als er die nächste Frage vorlas: »Welche drei Worte beschreiben deiner Persönlichkeit am besten? Welche drei Worte würden andere benutzen, um dich zu beschreiben?«
Er sah sie an, mit sichtbarer Belustigung im Blick. »Willst du meine Einschätzung wissen? Nachgiebig und schwach.«
›Du machst dir nicht einmal die Mühe bis drei zu zählen …‹ Obwohl Emily diese Worte auf den Lippen lagen, schluckte sie sie hinunter. Erneut hatte sie Jacks Ratschläge im Ohr: ›Sprich die Geiselnehmer nicht direkt an! Begegne ihnen nicht mit Verachtung oder Überheblichkeit. Droh ihnen nicht und antworte nur, wenn du gefragt wirst.‹
»Viele halten mich für zu nachgiebig und schüchtern. Dabei mag ich es nur nicht, im Mittelpunkt zu stehen“, antwortete sie gefasst. Aber ich lasse mich nicht einschüchtern, wenn mir etwas wirklich wichtig ist. Dann kann ich sehr geduldig sein. Außerdem lerne ich gerne neue Dinge. Das lässt sich mit den Worten geduldig, beharrlich und wissbegierig zusammenfassen.«Kurz zögert sie. »Was meine Wirkung auf andere angeht; manche halten mich für einen schlechten Menschen, denn ich habe mich in einen Mann verliebt, der kaum Skrupel kennt. Sie glauben, ich rede mir sein Verhalten schön, nennen mich realitätsfremd. Nichts davon trifft zu. Mir ist bewusst, was für ein Mann Jack ist. Und wenn ihr mich und Kaden nicht gehen lasst, werdet ihr es am eigenen Leib zu spüren bekommen.«
Tag 9: Hast du irgendwelche besonderen Eigenarten oder Fähigkeiten? Wie bist du dazu gekommen?
Emily schüttelte den Kopf. »Bisher war mein Leben eher durchschnittlich, aus der Sicht anderer vermutlich sogar langweilig. Ich meine, ich bin 27 Jahre alt, habe kein abgeschlossenes Studium, sondern habe mich von Job zu Job gehangelt und konnte mir nur selten einen Urlaub leisten. Mein Ausgleich bestand aus Büchern und Fantasyfilmen. Außerdem male ich gerne. Nicht so gut, dass ich die Bilder jemanden zeigen würde, aber es entspannt mich. Ich wünschte, ich hätte ein paar Stifte und einen Block bei mir. Malen würde mich vielleicht ablenken. Möglicherweise würde ich dann nicht länger andauernd darüber nachdenken, wie lange ich noch zu leben habe? Wie lange ich noch ›nützlich‹ bin. Ich versuche daran zu glauben, dass Jack uns finden wird, bevor meine Zeit abgelaufen ist. Doch es wird von Tag zu Tag schwerer.« Sie straffte die Schultern. »Aber ich weigere mich aufzugeben. Ich muss stark sein für meinen Sohn. Solange ich atme, werde ich nicht zulassen, dass Kaden Owen Martin in die Hände fällt.«
Tag 10: Wo lebst du jetzt und mit wem?
»Ich weiß nicht, wo ich aktuell lebe. Um mich herum sind ständig vier Fremde, aber ich darf zumindest bei meinem Sohn sein. Wenn auch nur weil der Drahtzieher, der hinter unserer Entführung steckt, sich nicht mit einem Baby belasten will. Lieber heuert dieser Feigling Söldner an, die mich und meinem Sohn von einem Unterschlupf in den Nächsten schleppen. Es ist mir nicht erlaubt, aus dem Fenster zu sehen oder auch nur Schuhe zu tragen. Wenigstens behandeln sie Kaden gut, doch sie lassen mich nicht zusammen mit meinem Sohn in einem Zimmer schlafen. Wenn ich Kaden versorge oder ihn auch nur auf dem Arm nehmen möchte, bin ich nie unbewacht. Zwei unserer Entführer sind immer dabei, ein Weiterer steht vor der Tür, ich bin für sie nichts weiter als eine Amme, eine billige Köchin und ein Dienstmädchen. Aber es ist in Ordnung, solange sie mich zu meinem Sohn lassen. Irgendwann wird Jack kommen und uns holen. Dann werden diese Söldner bereuen, was sie getan haben und Jack, Kaden und ich werden so leben, wie wir es tun sollten. Zusammen, in einem kleinen Haus mit Garten dahinter. Zwei unserer Entführer sind immer dabei, ein Weiterer steht vor der Tür. Ich bin für sie nichts weiter als eine Amme, eine billige Köchin und ein Dienstmädchen. Aber es ist in Ordnung, solange sie mich zu meinem Sohn lassen. Irgendwann wird Jack kommen und uns holen. Dann werden diese Söldner bereuen, was sie getan haben und Jack, Kaden und ich werden so leben, wie wir es tun sollten. Zusammen, in einem kleinen Haus mit Garten dahinter. Kaden wird in seinem Zimmer schlafen, in dem Bett in Form eines Rennwagens, dass sein Vater ausgesucht hat, anstatt in einem Reisebett. Er wird zusammen mit seinem Vater mit der Autorennbahn spielen und in Sicherheit sein.«
Tag 11: Wie ehrlich bist du dir selbst und anderen gegenüber, wenn es um deine Gefühle geht?
Emily wand sich innerlich. Der kalte Blick ihres Entführers lag wie festgeklebt auf ihr. Das Grinsen pappte auf seinen Lippen wie festgewachsen und der Spott in seinen Augen traf sie wie ein schmerzhaftes Stechen. Sie wollte diese Frage nicht beantworten. Weder vor diesem Mann, noch vor dem, der sich letztendlich diese Aufzeichnung ansehen würde. Doch ihr blieb keine Wahl. Sich einen Moment der Schwäche gönnend, schloss sie die Augen.
»Ich versuche mir selbst und auch anderen gegenüber so ehrlich wie möglich zu sein«, sagte sie, ohne ihren Geiselnehmer anzusehen. »Das ist nicht immer leicht, aber so viele schlechte Dinge passieren, weil man nicht miteinander redet über das, was in einem vorgeht. So viele Missverständnisse ließen sich vermeiden. Für mich selbst bemühe ich mich, nach dem Prinzip der radikalen Akzeptanz zu leben. Es erhöht die Stresstoleranz, vermeidet weiteren Schaden durch die Erlebnisse, die nicht veränderbar sind. Es bedeutet nicht, jede unangenehme Situation still hinzunehmen oder alles über sich ergehen zu lassen. Aber die Reaktion auf Stressfaktoren kann so verändert werden, dass der Blick schneller wieder in Richtung Konfliktlösung gelenkt wird. Niemand kann die Vergangenheit ungeschehen machen und ständig Schaden von sich abwenden. Radikale Akzeptanz vermindert die unangenehmen Gefühle, lässt schneller nach Lösungen suchen. Die negativen Gefühle werden vermindert und ihnen entgegengewirkt. Ich kann Situationen, die ich nicht ändern kann, akzeptieren dabei aber weiterhin nach einer Lösung suchen. Aufgeben kommt für mich nicht infrage.«
Tag 12: Traust du es jemandem zu, dich zu beschützen? Wenn ja, wem und warum?
Emily ignorierte die Belustigung in der Stimme ihres Entführers.
»Über Jack wird gesagt, er könnte jeden brechen. Es gäbe keinen Menschen, den er nicht zum Reden bringen könnte.« Ohne zu blinzeln, erwiderte sie den Blick des Mannes vor ihr »Du kannst dir sicher vorstellen, was man tun muss, um so etwas zu erreichen. Er sagte mir einmal, er wüsste genau, wie es ist jemanden mit einem Skalpell das Gesicht abzuziehen. Wie es sich anfühlt, Knochen zu brechen. Laute aus menschlichen Kehlen zu zwingen, von denen niemand glauben würde, dass sie so etwas hervorbringen können. Genau das wird er tun, bei jedem von euch. Er gibt niemals auf. Er wird mich und Kaden finden und ihr werdet sterben. So sicher, wie Eis in der Wüste nicht lange schmilzt.«
Tag 13: Wer ist dein bester Freund?
»Während ich meine Eltern pflegte, schliefen meine wenigen sozialen Kontakte nach und nach ein. Ich war nie jemand, der leicht Freundschaften schließt oder schnell auf andere zugeht. Mobbing in der Schule hat mich gelehrt, vorsichtig zu sein, Menschen zu misstrauen. Daher habe ich viel gelesen. Es mag merkwürdig klingen, aber Bücher waren lange Zeit meine besten Freunde. Dann trat Jack in mein Leben und ich durfte zum ersten Mal spüren, wie es ist, wenn es jemanden interessiert, was ich denke. Auch wenn das nicht von Anfang an so war. Es hat sich langsam, beinahe schleichend entwickelt, so wie sich eine Freundschaft oft ist. Jack ist nicht nur mein Mann und der Vater meines Kindes, derjenige, dem ich mein Leben anvertrauen würde. Er ist auch mein Vertrauter und mein bester Freund.«
Tag 14: Welche Person verabscheust du am meisten und weshalb?
Etwas blitzte in Emilys Augen auf. »Owen Martin. Manipulativ, seelenlos, eiskalt. Und nein, das möchte ich nicht begründen.«
Tag 15: Bist du in der Lage zu töten? Wenn ja, unter welchen Umständen?
›Löse meine Fesseln, gib mir eine Waffe und lass es uns herausfinden.‹
Rasch senkte Emily den Blick aus Furcht, ihr Entführer könnte ihr ansehen, was sie dachte.
»Ich weiß es nicht, obwohl ich in den letzten Wochen ununterbrochen darüber nachdenke. Je länger ich hier bin, umso mehr glaube ich, dass ich es könnte, um meine Freiheit zurückzuerlangen.«
Tag 16: Wenn du wüsstest, du würdest in 24 Stunden sterben, was würdest du in der verbleibenden Zeit tun?
»Kaden in Sicherheit bringen.« Emily reckt das Kinn. »Und jeden beseitigen, der sich mir dabei in den Weg stellt.«
Tag 17: Was denkst du, war bisher das wichtigste Ereignis in deinem Leben?
Emily antwortete, ohne zu zögern. »Die Begegnung mit Jack. Durch ihn bin ich selbstbewusster geworden und habe gelernt, dass ich diplomatisch sein kann. Durchsetzungsfähig. Jack hat diese Art an sich. … Er kann so stur sein. Da heißt es dann, den richtigen Moment abzupassen, um ihn behutsam aufzuzeigen, wenn er falschliegt. Dabei muss man allerdings ziemlich beharrlich bleiben. Und ich habe gelernt, dass meine moralischen Grenzen nicht so starr sind oder auch nur ansatzweise so edel, wie ich es mir früher gerne eingeredet habe. Und wenn er mich ansieht, liegt etwas in seinem Blick, das mich denken lässt, ich wäre doch etwas Besonderes. Ihm gelingt es, dass ich mich nicht nur hübsch fühle, sondern mir auch ernst genommen vorkomme.«
Tag 18: Was war das Peinlichste, was dir je widerfahren ist?
»Außer hier sitzen zu müssen, um mein Inneres vor Männern offenlegen müssen, die ich verabscheue?«
›Begegne deinen Entführen nicht mit Verachtung oder Überheblichkeit. Droh ihnen nicht und antworte nur, wenn du gefragt wirst.‹ Die mahnende Stimme, die so vertraut nach der Jacks klang, brachte Emily zur Vernunft.
»Ich war so 5 oder 6 Jahre alt, als meine Mutter mit meinem Bruder und mir den Zirkus besuchte«, fuhr sie ruhiger fort. »Mum hatte uns jedem einen rotes Slushie gekauft, allerdings war meiner unten so gefroren, dass ich versuchte, das Eis mit dem Strohhalm klein zu hacken. Dabei machte ich versehentlich den Becher kaputt und goss das blutrote Getränk komplett auf mich drauf. Natürlich fing ich an zu schreien und – da es gerade total ruhig in der Manege war, weil alle gebannt dem Akrobaten zuschauten – starrten plötzlich alle mich an. Und ich muss ein wirklich fürchterliches Bild abgegeben haben: blutgetränkt und wie am Spieß schreiend – sodass die Vorstellung wegen mir unterbrochen wurde, weil alle dachten, ich hätte mich verletzt…«
Tag 19: Was ist deine schönste Erinnerung? Was deine Schlimmste?
»Die Schönste? Der Moment, als ich den Mann, den ich liebe, zum ersten Mal von Herzen lächeln sah. Denn dieser Augenblick veränderte so viel … Die Schlimmste? Als mir gesagt wurde, ich darf mich nicht wehren, wenn ich nicht wolle, dass mein Sohn stirbt.«
Tag 20: Welches Tier wärst du und warum gerade dieses?
»Ich glaube, ich wäre eine Eidechse. Sie mag es warm, liegt gerne in der Sonne. Dabei scheint sie ganz in sich zu ruhen. Dennoch kann sie blitzschnell reagieren, wenn sich eine Gefahr nähert oder ein Beutetier in ihrer Näher auftaucht. Ihre Sinne sind geschärft, auch wenn sie starr und verträumt anmutet.«
›Bleib geduldig und aufmerksam! Finde heraus, wer welchen Rang hat, wer welche Sprache spricht und wer welche Schwächen hat. Diese Informationen sind wichtig, um den Fluchtversuch zu planen.‹
Die mahnende Stimme in ihrem Kopf brachte Emily dazu, ihre Aussage zu revidieren.
»Vielleicht wäre ich aber auch ein Fuchs. Nicht, weil ich mich für besonders klug halte, sondern weil es heißt, der Fuchs ist sehr anpassungsfähig. Er wechselt seine Fellfärbung mit der Jahreszeit und ist somit ein Meister der Tarnung. Zudem ist er in der Lage unter den widrigsten Bedingungen zu überleben. Ein Fuchs stellt sich zuweilen tot, um seine Beute anzulocken. Üblich ist das Bild vom Fuchs als Einzelgänger, doch führen Füchse auch lange Partnerschaften.
Schon immer habe ich mehr auf die Handlungen der Menschen in Deiner Umgebung geachtet, als auf ihre Worte, was ebenfalls zu einem Fuchs passt. Denn wenn es einem gelingt, selbst unbeobachtet zu bleiben, kannst du dich leicht selbst in die Rolle des Beobachters bringen. So kannst du mit der Zeit lernen, die Handlungen deiner Mitmenschen vorauszuahnen. Außerdem wirst du schnell unterschätzt, was dir effektive Überraschungsmomente sichern kann.«
Tag 21: Wovor hast du am meisten Angst? Hast du irgendwelche Phobien?
»Phobien verlieren an Bedeutung, wenn man aus seinem Haus gezerrt und zusammen mit seinem vier Monate alten Sohn als Druckmittel benutzt wird. Das Einzige, vor dem ich mich fürchte, ist hier zu sterben und Kaden der Willkür des Mannes auszuliefern, der ihn in seine Gewalt gebracht hat.«
Tag 22: Wenn du dir eine übernatürliche Fähigkeit aussuchen könntest, was würdest du wählen?
»Telekinese wäre sehr nützlich.«
Emily stellte sich vor, wie sie mittels ihrer Gedanken ihre Entführer dazu bringen würde, sich ihre eigenen Waffen an die Schläfen zu halten und abzudrücken. Dass sie bei dieser Vorstellung lächelte, machte ihr beinahe mehr Angst, als alles, was ihr zuvor widerfahren war. Beinahe …
Tag 23: Wenn du etwas an dir ändern könntest, was wäre das?
»Ich wünschte, ich hätte mich mehr angestrengt, als Jack mir beizubringen versucht hat, mich selbst zu verteidigen. Wenn ich mich nicht so zimperlich angestellt hätte, mich nicht geweigert hätte eine Waffe im selben Haus zu haben, in dem mein Sohn lebt, hätte ich mich vielleicht besser wehren können und säße nun nicht hier.«
Tag 24: Bist du eher spontan, oder hast du immer einen Plan?
»Jeder, der einen Blick auf meinen Lebenslauf geworfen hat, kennt die Antwort. Natürlich hatte auch ich mein Leben fest geplant. Schulabschluss, College, Job. Doch dann kam alles anders. Ich habe gelernt spontan zu sein, mich schnell auf Neues einzulassen. Das ist allerdings nicht die ganze Wahrheit. Es ist leicht, sich als spontan zu bezeichnen, wenn der Alltag stets demselben Rhythmus folgt und es kaum soziale Kontakte gibt. Durch Jack habe ich gelernt, was Spontanität für eine wunderbare Art ist, aus dem Alltag auszubrechen Pläne geben Sicherheit, aber Spontaneität macht glücklich. Damit meine ich nicht die im positiven Sinne naive Ungezwungenheit, wie spontan mit einem Fremden einen Kaffee trinken zu gehen, sondern vielmehr jene charakterliche Eigenschaft, aus heiterem Himmel einfach mal etwas Ungeplantes tun zu können – ohne hinreichenden Grund, einfach so. Darin liegt nicht nur ein wesentlicher Schlüssel des Erfolgs, sondern auch das Geheimnis des Glücks.«
Tag 25: Wie gehst du mit Stress um?
»Ich lese, denn ich liebe Bücher. Für mich ist Lesen Entspannung, Stressabbau, Freude und Spaß. Es ist ein Abtauchen in andere Welten. Ich bin mit dem kleinen Hobbit auf Reisen gegangen, Harry Potter hat mich zaubern gelehrt und mit Eragon bin ich auf Drachen geritten. Ich kann Abenteuer erleben, verschiedene Charaktere treffen, von denen manche zu Freunden werden. Ich erfahre etwas über andere Lebensweisen, besuche Orte, an denen ich noch nicht war, vermutlich nie kommen werde. Lesen bringt mich an Orte, an die ich niemals reisen könnte. Oder ich bummle über Trödelmärkte. Im Sommer finde ich es herrlich auf einer Decke in der Sonne zu sitzen und zu lesen. Wenn es kühler ist, sehe ich mir auch gern einen guten Film auf DVD an, eingekuschelt in meiner Lieblingsdecke, eine Tasse Tee in Reichweite.«
Nichts davon war ihr in dieser Umgebung möglich. Das Einzige, was sie tun konnte, war die Tränen herunterschlucken und sich einen Rest stolz bewahren.
Tag 26: Welche drei Dinge würdest du mit auf eine einsame Insel nehmen?
»Genau genommen sitze ich bereits auf einer. Ich bin umgeben von Feinden, wie Wasser eine Insel umschließt. Isoliert, obwohl ich keine Sekunde unbeobachtet bin. Zwei der drei Dinge, die ich mir hier wünsche, wären dieselben, die ich auf eine Insel mitnehmen würde. Ein Messer zur Verteidigung, eine Großpackung Kabelbinder und für die Insel einen Topf.«
Tag 27: Für was möchtest du in Erinnerung behalten werden?
»Ich möchte Kaden aufwachsen sehen. Länger als die zwei, drei Jahre, die mir vermutlich zugestanden werden. An seinem ersten Schultag dabei sein, zusehen wie er Football spielt oder von mir aus auch Geige. Was immer er tun möchte, ich will es miterleben dürfen, ihn auf seinem Lebensweg begleiten. Darum möchte ich als die Frau in Erinnerung behalten werden, die zurückgekommen ist. Die, die überlebt hat.«
Tag 28: Wie sieht Mut für dich aus? Was verstehst du darunter?
»Mut ist nicht das Fehlen von Angst. Mutig zu sein bedeutet für mich, trotz Angst, das zu tun, was richtig und nötig ist. Sich selbst Fehler einzugestehen und sie auch vor anderen zugeben. Um Verzeihung zu bitten, falsches Verhalten zu korrigieren und zu versuchen Verfehlungen wieder gut zu machen. Jemanden beistehen, wenn es sonst niemand tut, hinter die Masken zu blicken, und frei seine Meinung äußern. Sich gegen Vorurteile stellen und stets die Dinge von beiden Seiten ansehen. Das gehört für mich zur Sozialcourage und fällt somit unter Mut.«
Tag 29: Welchen Rat würdest du deinem Autor geben?
»Es wäre schön, wenn sie ihre Figuren ab und zu ein wenig gnädiger behandeln würden. Ernsthaft, was sie Jack haben durchmachen lassen oder diese beiden Brüder … Wer denkt sich so etwas aus? Wer lässt eine Mutter samt ihrem Säugling entführen? Wir haben auch Gefühle. Wir leiden, empfinden Freude und auch Schmerz. Könnt ihr uns nicht einfach mal etwas mehr vom glücklich sein gönnen?«
Tag 30: Wenn du mit all deinen Abenteuern fertig bist, wie willst du leben?
»Es gibt nur eins, was ich will: Überleben! Um dann zusammen mit Kaden zu Jack zurückkehren.«