Solange du selbst dein größter Feind bist, ist nichts je vorbei.

Sam und Blake haben es geschafft. Das Labor, das ihnen ihre Kindheit stahl, wurde geschlossen. Der Mann, der sie ein Leben lang verfolgte, ist tot. Während Blake die neu gewonnene Freiheit nutzt, sich eine Existenz aufzubauen, kann Sam die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Immer häufiger fragt er sich, wer er eigentlich ist. Um das herauszufinden geht Sam ein Bündnis ein, mit dem er nicht nur sein Leben, sondern auch das Vertrauen seiner Familie aufs Spiel setzt.

Leseprobe Sam McLain: Alte Feinde (Die McLain Reihe 4)

Prolog
Emily, New Jersey, Juli 2015

Emily zitterte. Rauschen in ihren Ohren, der Herzschlag rippenbrechend. Unwillkürlich strebte ihr Körper nach vorn. Zum Zimmer ihres Sohnes. Er schrie! Auf eine Art und Weise, die sie nicht kannte.
Doch dieselben Hände, die sie Sekunden zuvor aus dem Bett gerissen hatten, hinderten sie nun daran, zu ihrem Sohn zu gelangen.
Sie hatte sofort gewusst, dass es nicht Jack war. Seine Berührung fühlte sich anders an, seine Haut roch anders. Auch die Stimme an ihrem Ohr war die eines Fremden.
„Schrei und dein Sohn stirbt!«
Emily verstand nicht. Alles, was sie verarbeiten konnte, war das Schreien ihres Sohnes und die starken Arme, die sie auf den Flur hinaus zerrten. Sie versuchte freizukommen, wild entschlossen, sich bis zu Kaden vorzukämpfen. Der Griff um ihre Taille wurde fester, schnürte ihr die Luft ab. Mit der anderen Hand versuchte der Fremde, ihr Kinn zu packen, dabei kam er in Reichweite ihrer Zähne und sie biss zu.
»Fuck, Yellow, hilf mir hier mal«, rief ihr Peiniger, woraufhin eine weitere Gestalt auf den Flur kam.
Sie trat nach dem zweiten Unbekannten, der Anstalten machte, sich ihr zu nähern.
Er schlug ihr Bein mit einer spielerisch anmutenden Bewegung beiseite und packte sie dann grob bei den Schultern. Emilys Blickfeld verschwamm, als er sie heftig schüttelte.
»Hör auf mit dem Theater, Schlampe. Oder muss ich dein Balg herholen?«
Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie zitternd jegliche Gegenwehr einstellte.
»Hände her«, befahl Yellow, der trotz seines Namens in schwarze Cargohosen und eine dunkle Jacke gekleidet war.
Der Mann hinter ihr lockerte seinen Griff, sodass Emily die Hände ausstrecken konnte. Sie zuckte zusammen, als das kalte Metall der Handschellen sich darum schloss. Eine seltsame Ruhe ergriff Besitz von ihr. Ganz so, als wäre alles nur ein Traum, den man verabscheute, aber ertrug, in dem Wissen, bald zu erwachen.
»Es ist keiner hier, der dir helfen kann. Benimmst du dich nicht, schadest du deinem Jungen. Folge den Anweisungen und niemandem wird etwas passieren«, zischte Yellow.
Er sprach ohne jeglichen Akzent, doch seine Augen verrieten, dass er indigener oder asiatischer Abstammung war.
Emily zwang sich, nicht wegzusehen. »Bitte, lassen Sie uns gehen.«
Sie wusste, ihre Worte waren nutzlos, erkannte es an dem Eis in seinen dunklen Augen. Ihre Gedanken überschlugen sich.
»Hat Martin euch geschickt?«
»Sei still!«
»Wenn mir oder meinem Sohn etwas zustößt, gibt es jemanden, der euch bis ans Ende der Welt jagt! Geht einfach und ich werde niemandem etwas sagen.«
»Der Vater deines Bastards ist beschäftigt. Für sehr lange Zeit.«
Emily schluckte bittere Galle. »Jack wird euch finden!«
»Ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten!«
Die Ohrfeige war so heftig, dass sie stürzte. Hart schlug sie auf dem Boden auf.
Sofort war Yellow wieder bei ihr, griff an seinen Gürtel und zog einen Knebel hervor.
Erneut versuchte Emily, sich loszureißen, erstarrte, als sie hörte, wie eine Waffe entsichert wurde. Sie sah zu dem zweiten Mann hinüber, der den Lauf einer Pistole auf sie gerichtet hatte.
„Deine letzte Warnung! Wir brauchen deinen Bastard. Dich nicht unbedingt.“
Solltest du je mit einer Waffe bedroht werden, denke immer daran, dass du in so einer Situation zuerst dein Leben retten musst.
Emily hörte Jacks Stimme so deutlich, als stünde er neben ihr.
Wenn du dich wehrst, steigt die Gefahr, dass du getötet wirst. Tu, was der Angreifer sagt und warte auf eine gute Gelegenheit.
Doch es war der Anblick einer vierten Gestalt, die ihren Sohn auf dem Arm trug, der jeden Gedanken an weitere Gegenwehr erstickte.
Als sie dieses Mal auf die Beine gezerrt wurde, ließ Emily sich widerstandslos den Flur entlang und aus dem Haus führen.
Vor der Tür parkten zwei unauffällige Mittelklassewagen. Einer der Männer überholte sie und öffnete die Tür des vorderen Fahrzeugs.
Grob schob er sie bis zur Mitte der Rücksitzbank, zwängte sich anschließend neben sie, während ein anderer auf den Fahrersitz stieg.
Aus dem Augenwinkel konnte Emily sehen, wie Kaden zum weiter entfernten Auto getragen wurde.
»Wir fahren voran!«, drang Yellows Stimme von draußen zu ihr durch.
Sofort hielt Emily nach dem zweiten Wagen Ausschau, doch durch die getönten Scheiben konnte sie Kaden nicht ausmachen.
Schon sprang der Motor mit leisem Schnurren an und rollte vom Hof. Ihre aufkeimende Panik legte sich erst, als sie bemerkte, dass der zweite Wagen ihnen folgte.
»Die anderen werden sich um deinen Sohn kümmern. Es wird ihm gut gehen, solange du tust, was ich dir sage.« Die Stimme des Mannes neben ihr klang trügerisch ruhig.
 Er legte ihr eine Tüte auf den Schoß und nahm ihr die Handschellen ab. »Zieh das an. Wir fahren jetzt zum Flughafen. Dort wirst du mit mir in ein Flugzeug steigen. Du wirst nicht schreien und dich normal verhalten. Yellow und Red folgen uns mit deinem Sohn. Wenn du tust, was ich sage, siehst du ihn an unserem Ziel wieder.«
Während Emily sich zwang, die Tüte mit zitternden Fingern zu öffnen, kämpfte sie darum, ruhig weiter zu atmen. Dennoch gestattete der Knebel ihr kaum genug Luft zu bekommen. Sie spürte, wie sich ein kalter Schweißfilm auf ihrer Haut bildete. Davon abgesehen: nichts.
Weder den Schmerz der Verletzungen, die sie sich während ihres Widerstands zugezogen haben musste, noch die Nachwirkungen der Schläge, die sie getroffen hatten, nicht die Wärme der Juninacht. Dafür hielt sie die Angst um Kaden fest umklammert. Ebenso wie die um Jack.
Erst nachdem ihr Entführer sie ein zweites Mal mit einer Geste auf die Tüte in ihrem Schoß aufmerksam machte und sie von dem Knebel befreit hatte, begann Emily die Jeans, das schlichte T-Shirt und die Flipflops hervorzuziehen. Dankbar, dass sie zumindest ein Schlafshirt trug, nutzte sie die notdürftige Deckung, um sich das neue Oberteil anzuziehen, ohne sich den Blicken der Fremden schutzlos ausliefern zu müssen. Die Aufgabe lenkte sie ab. Langsam gewann sie ihre Fähigkeit nachzudenken zurück.
Versuch, ruhig zu bleiben und die Situation im Detail wahrzunehmen. Verhalt dich passiv kooperativ! Stell dich darauf ein, dass die Entführer dich schikanieren, einschüchtern und verhöhnen werden. Folge allen Anweisungen und versuche, dir deine Würde zu bewahren. Sei nicht aufmüpfig, spiel nicht die Heldin!
Erneut klang Jacks Stimme so klar in ihrem Kopf, als säße er neben ihr. Ein tröstlicher Gedanke.
Bleib geduldig und aufmerksam! Finde heraus, wer welchen Rang hat, wer welche Sprache spricht und wer welche Schwächen hat.
Vorsichtig spähte sie zu dem Unbekannten neben sich, der sich mittlerweile die Maske vom Kopf gezogen hatte. Er war größer als Yellow, schien Amerikaner zu sein und hatte ein von Pockennarben zerfurchtes Gesicht.
Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Wie ist dein Name?«
Ausdruckslos sah er sie an. »Ich bin Blue. Das ist Purple.« Er wies auf den schweigenden Fahrer ihres Wagens.
»Yellow und Red fahren im anderen Wagen?«
»Ruhe jetzt!«
Emily zuckte zusammen.
Sprich die Geiselnehmer nicht direkt an! Droh ihnen nicht und antworte nur, wenn du gefragt wirst.
Beinahe hätte sie genickt, besann sich aber im letzten Augenblick. Nur langsam begann sie zu begreifen, was passiert war. Entführt in der letzten Nacht ihres alten Lebens …
In wenigen Stunden wäre Jack bei ihr gewesen, um mit ihr und Kaden zu fliehen. Er war bereit gewesen, all den Einfluss, das Geld, die Macht, die er hätte erben können, aufzugeben.
Noch immer war es ihr unbegreiflich, wie Jack sich trotz der brutalen Erziehung seines Adoptivvaters seine Fürsorge hatte bewahren können. Jack hatte sie gut verborgen und Emily wusste bis heute nicht, warum er es ausgerechnet ihr gestattet hatte, hinter seine Fassade zu blicken. Doch erst nachdem Kaden geboren war, wollte Jack all der Gewalt den Rücken kehren.
Dass sie nun zusammen mit Fremden in einem Wagen saß, dessen synthetischer Geruch bewies, dass er noch kein halbes Jahr alt war, konnte nur eins bedeuten: Ihr gemeinsamer Plan war aufgeflogen und Jack …
Sie wollte sich nicht ausmalen, was Martin ihm antun mochte, um seinen vermeintlichen Verrat zu vergelten.
Den leeren Blick starr aus dem Fenster gerichtet, betete Emily, dass Jack am Leben war und sie retten würde.
Es dauerte eine Weile, bis ihr der Gedanke kam, dass es vielleicht keinen Gott gab, der ihr Gebet würde erhören können.