Ein illegales Labor, ein skrupelloser Geschäftsmann und zwei Brüder auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit.

Owen Martin ist einer der erfolgreichsten Pharmaziehersteller der USA. Dass sein Erfolg auf illegalen Versuchen an Minderjährigen beruht, wissen nur wenige. Blake McLain jedoch kennt das Geheimnis des skrupellosen Geschäftsmannes, denn er und sein kleiner Bruder waren sieben Jahre lang in einem seiner Labore gefangen. Als es Blake durch einen glücklichen Zufall gelingt, sich und Sam zu befreien, beginnt eine unerbittliche Verfolgungsjagd quer durch die Staaten. Verfolgt von einem Mann, der darauf trainiert wurde zu töten, bietet kein Ort Zuflucht, scheint keine Telefonverbindung geschützt und kein Mensch ist in ihrer Nähe sicher. Was als Hoffnungsschimmer auf ein freies Leben beginnt, wird bald zu einer Gefahr für das Einzige, worauf Blake und Sam sich immer verlassen konnten: Ihre bedingungslose Loyalität zueinander.

Leseprobe Blake McLain: Flucht (Die McLain Reihe 1)


Kapitel 1
New Jersey Mai 2000

Blake hatte nie geglaubt, dass man Angst riechen könnte, doch mit den Jahren war er eines Besseren belehrt worden. Angst roch nach dem kalten Schweiß, der ihm aus allen Poren drang, während er auf einer harten Liege lag. Kopf, Arme und Beine so fixiert, dass es unmöglich war, sich zu rühren, und ihm nichts weiter übrig blieb, als die Schmerzen zu ertragen. Die einzige Möglichkeit, sich Erleichterung zu verschaffen, wäre schreien gewesen. Doch Blake schrie längst nicht mehr.
Als man ihn zum ersten Mal in diesen kahlen, unpersönlichen Raum gebracht hatte, wo er atemlos vor Angst zurückgelassen wurde, war er neun Jahre alt gewesen. Die ersten Tage waren fürchterlich. Um vieles schlimmer als er glaubte, ertragen zu können. Er hatte ja keine Ahnung …
Fremde Männer in weißen Kitteln waren gekommen, die ihn wogen, ihn abmaßen und katalogisierten, als wäre er nicht mehr als ein Ding, das es zu erforschen galt. Keine Frage, kein Flehen hatte ihm eine Antwort gebracht. Als Dr. Martin zu ihm kam, wünschte sich Blake, niemals gefragt zu haben.
»Bitte«, hatte er zu dem blonden, hochgewachsenen Mann gesagt, »ich möchte nach Hause.«
Das Lächeln, das die Antwort begleitete, enthielt nicht einen Hauch Wärme. »Das geht nicht. Du wurdest ausgewählt, Blake.«
»Wozu?«
»Das braucht dich nicht zu interessieren. Du wirst lernen zu tun, was man dir sagt.«
»Das werde ich nicht. Mein Dad wird mich holen.« So überzeugt war er davon, dass für den Augenblick seine Furcht versiegte.
Der stechende Blick Dr. Martins beendete das kurze Aufbäumen von Widerstand. Aber es waren seine Worte, die Blake zurück auf die schmale Pritsche sinken ließen, wo er sich zusammenrollte.
»Deine Eltern sind tot. Sie starben bei dem Brand eures Hauses. Du lebst jetzt hier und wirst dich fügen.«
Ohne Mitgefühl schilderte der Doktor, was geschehen würde, sofern er sich nicht fügte. Dann ging er und ließ Blake zurück. Allein mit dem Gedanken an einen Brand, an den er sich nicht erinnerte, der Sorge um seinen Bruder, den er nicht sehen durfte, und der Angst vor einer Zukunft, die er nicht einzuschätzen vermochte.
Bisher war Blakes Welt ein Ort gewesen, in der es Blaubeerwaffeln gab, liebevolle Worte und Geborgenheit. Nach seiner Ankunft im Labor bestand sie aus einem kahlen Raum mit einer Metallpritsche, auf die ihn Männer in weißen Kitteln schnallten, damit sie ihm Injektionen verabreichen konnten. Für sie waren es Testreihen, für ihn flüssige Qual.
Sieben Jahre vergingen. Sieben Jahre voll endloser Tests, ohne Aussicht darauf, dass sich Blakes Leben je ändern könnte.
Wie jeden zweiten Abend hatte er auch heute auf der schmalen Pritsche gelegen und darauf gewartet, dass es vorbei ging und er zurück auf sein Zimmer durfte. Wenigstens schnallte ihn niemand mehr an. Dr. Martin nutzte ein wesentlich effektiveres Mittel, um ihn gefügig zu machen.
Er taumelte, als ihn die Nachwirkung der Injektion überrollte. Nur ein rascher Griff von Parker bewahrte ihn vor einem Sturz. Der untersetzte dunkelhaarige Mann gehörte zu den Pflegern, die ihn mit einem Anflug von Respekt behandelten. Trotzdem war das Blake keinen Dank wert. Dazu war ihm alles hier zu verhasst. Das unpersönliche Zimmer ebenso wie der anonyme Unterricht vor dem Monitor und die entwürdigende Behandlung durch die Aufseher.
Er krümmte sich, als eine weitere Schmerzwelle durch ihn hindurchraste. Der Wunsch, sich auf dem Boden zusammen zu rollen und einfach liegen zu bleiben, war groß. Allerdings hätte der Doktor dies als mangelnde Kooperation oder Widerstand angesehen. Die Strafe dafür hätte Blakes jüngeren Bruder erhalten. Also versuchte Blake sich zusammenzureißen, während der Schmerz langsam abklang.
Auf der Suche nach etwas, das ihn davon ablenken könnte, irrte Blakes Blick ziellos umher. Glitt über das abgetretene graue PVC zu den hellen Wandfliesen, die in halber Höhe von bruchsicherem Glas abgelöst wurden. Dahinter befanden sich die Behandlungsräume, deren bloßer Anblick Zorn in ihm aufsteigen ließ. Bereits seit Wochen kämpfte er gegen die immer stärker werdenden Aggressionen an, die zusammen mit der neuen Testreihe begonnen hatten. Er bemühte sich, die Kontrolle nicht zu verlieren. Es machte ihm Angst, wie unbegründet sich seine Wut seit den neuen Injektionen zeigte.
Blake legte den Kopf in den Nacken und drehte ihn langsam, um die Anspannung zu lösen. Nur deshalb bemerkte er die offenstehende Tür zu einem der Räume. Ein leiser, wimmernder Laut drang daraus hervor. Das Geräusch verwirrte ihn. Abgesehen von Sam hatte er seit Monaten kein anderes Kind mehr zu Gesicht bekommen.
Als Parker ihn weiterzog und sie die geöffnete Tür passierten, erregte noch etwas seine Aufmerksamkeit. Sein Kopf zuckte abrupt herum. Dort, am Boden des Behandlungsraumes, lag ein Teddy. Alt, mit zerzaustem Fell und einem fehlenden Ohr. Sammys Bär!
Er wollte abbiegen, um in den Behandlungsraum zu laufen, sich davon überzeugen, dass er sich irrte. Dr. Martin hatte ihm versprochen, es würde niemals dazu kommen. Nicht, wenn er alles tat, was man von ihm verlangte. Doch dieser Teddy, dieses abgegriffene alte Spielzeug, raubte ihm jede Hoffnung, dass diese Abmachung weiterhin Bestand hätte.
Parker versuchte, Blake zurückzuhalten. Der schüttelte die Hand des Mannes ab und stürzte auf die offene Tür zu. Grob wurde er herumgerissen. Sehnige Finger bohrten sich in seinen Oberarm.
»Falscher Weg, Junge! Hier geht’s lang!«
Der grollende Laut, der daraufhin aus seiner Kehle drang, überraschte selbst Blake.
Parker warf ihm einen warnenden Blick zu. »Mach keinen Ärger. Davon hast du bereits genug.«
Sein Griff verstärkte sich. Gleichzeitig wollte er Blake den Arm auf den Rücken drehen. Es blieb bei dem Versuch.
Blake wirbelte herum und donnerte dem Mann seine Faust ins Gesicht. Der Aufseher schrie und taumelte zurück.
Wenige Schritte später stand Blake im Behandlungsraum und blickte fassungslos auf seinen neunjährigen Bruder, der dort auf der Liege lag.
»Blake«, wimmerte Sam hilflos, wobei er an den Lederriemen zerrte, die ihn an seinem Platz hielten.
Johnson, ein weiterer Pfleger, verharrte mitten in der Bewegung.
»Was hast du hier drin verloren?«, zischte er Blake zu. »Verschwinde!«
Blake reagierte nicht. Er stand nur da, den Blick starr auf Johnson und die Spritze gerichtet, die viel zu nahe an der Armbeuge seines Bruders war. Die Schritte hinter sich nahm er nur am Rande wahr.
Johnsons Blick ging an ihm vorbei. Offensichtlich hatte er Parker entdeckt. »Was ist hier los?«
Blake ignorierte die Frage. »Warum ist Sam hier? Dr. Martin sagte, er lässt ihn zufrieden, solange ich kooperiere!«
Johnson zuckte die Schultern. »Sam hat sich freiwillig gemeldet.«
Blakes Blick schoss zu seinem Bruder, dann erneut zu Johnson. »Was?«
Der Pfleger grinste. »Dr. Martin braucht neue Laboräffchen. Er hat Sam angeboten, dich zu entlasten. Dein Bruder war sofort dabei, als Martin ihm sagte, er könne dir eine Menge Schmerzen ersparen.« Johnson wandte sich an seinen Kollegen. »Bring ihn aufs Zimmer, Parker. Wenn Martin mitkriegt, dass er hier ist, steigt er uns aufs Dach!«
Parker packte erneut Blakes Arm, während sich Johnson Sam zuwandte.
Blake brüllte auf. Er sprang vor und entriss Johnson die Spritze. Er duckte sich unter Parkers Arm hinweg, der ihn zu packen versuchte, und stieß ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Der Pfleger gab ein gurgelndes Geräusch von sich und ging zu Boden.
Johnson wirbelte herum. Blake rammte ihm, ohne zu zögern, die Nadel in den Oberschenkel. Der Mann schrie auf, als Blake den Kolben niederdrückte. Ungerührt ließ Blake seine Faust in Johnsons Magen krachen. Als der sich krümmte, riss Blake das Knie hoch und traf ihn unter dem Kinn. Bevor Johnson nach hinten wegkippte, zog Blake ihn am Kragen seines Kittels in die Höhe und stieß ihn gegen die Wand. Zwei-, drei-, viermal hämmerte er den Kopf des Mannes dagegen.
Johnson stöhnte. Ein hässliches Knacken ertönte. Dann war es still. Die gekachelte Wand hinter ihm färbte sich rot.
Schwer atmend hielt Blake inne und starrte reglos auf das Blut an der weißen Wand, bis ihn ein Wimmern herumfahren ließ.
Sam starrte ihn an. Die sanften, braunen Augen vor Angst geweitet.
Blake stürzte zu ihm und versuchte, die Fesseln zu lösen. Seine Finger zitterten so sehr, dass es ihm schwerfiel, die Schnallen aufzubekommen. Als es ihm endlich gelang, schlang Sam ihm die Arme um den Hals.
»Sie haben gesagt, du verträgst die neue Testreihe nicht. Ich sollte … sie wollten … ich …«, stammelte er unter Tränen.
»Schhhh, schon gut Sammy. Ich weiß …« Blake zog ihn von der Liege herunter, stellte ihn auf die Beine und sah ihn eindringlich an. »Du musst dich jetzt zusammenreißen, Zwerg. Bleib dicht hinter mir, dann passiert dir nichts.«
Sam nickte, während er sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen wischte.
Blake nahm ihn an die Hand und zog ihn aus dem Raum, wobei sie über Johnsons reglosen Körper hinwegsteigen mussten. Im Vorbeigehen zog Blake dem Mann die Zugangskarte vom Kittel.
Er rannte los, wobei er Sam hinter sich herzog. Sie kamen nur wenige Schritte weit, da erklang das Heulen der Alarmanlage.
Blake fluchte. Er musste Sammy in Sicherheit bringen, auch wenn es unmöglich schien. Das Labor glich einer Festung. Tief im Keller verborgen, mit Sicherheitsschlössern, die sich ausschließlich mit einer Zugangskarte öffnen ließen, von denen er nach so langer Zeit endlich eine in Händen hielt.
In aller Eile schob Blake Johnsons ID-Karte durch den Schlitz der Anzeigetafel am Aufzug. Quälend langsam öffneten sich die Türen. Blakes Gedanken hingegen überschlugen sich, während er seinen Bruder in die enge Kabine schob. Sie saßen in der Falle. Egal wie hoch sie fuhren, die Pfleger würden sehen, wo sie anhielten. Sobald sich die Türen wieder öffneten, waren sie verloren.
Kurzentschlossen drückte er den Notschalter. Der Aufzug stoppte.
»Was tust du?«, fragte Sam mit zitternder Stimme.
Blake schüttelte nur den Kopf. Er suchte den Fahrstuhl ab, sein Blick blieb an der Decke der Kabine hängen.
Der Notausstieg!
Er kniete sich hin, um seinem Bruder in die Augen zu sehen. »Ich brauche deine Hilfe, Sammy. Ich hebe dich jetzt hoch. Du musst versuchen, die Luke dort oben aufzubekommen. Schaffst du das?«
Sam nickte. Ohne zu zögern stieg er in die verschränkten Hände seines Bruders und klammerte sich an dessen Schultern. Langsam stemmte Blake ihn in die Höhe, bis er die Luke erreichen konnte.
Sam drückte gegen das Blech, bis es nachgab und sich zur Seite schieben ließ.
Indem er sich noch weiter aufrichtete, half Blake seinem Bruder dabei, sich durch die Öffnung zu ziehen, bevor er ihm folgte. Auf dem Dach des Aufzuges warf er einen abschätzenden Blick nach oben.
»Dort hinauf!« Blake deutete auf die Leiter, die an die Wand geschraubt war.
Wieder nickte Sam und kletterte Blake hinterher.
An der zweiten Aufzugtür hielt Blake inne. Mit einem Arm umklammerte er die Leiter, den anderen streckte er nach einem Hebel aus, der sich in der Wand befand. Die Tür öffnete sich einen spaltweit.
Blake spähte hindurch. Ein langer, dämmeriger Korridor lag verlassen vor ihm. Schnell kletterte er aus dem Schacht, drehte sich um und hielt Sam eine Hand hin.
»Komm raus.«
Sam hangelte sich zur Öffnung, krabbelte auf den Flur und rannte neben Blake her, bis das Licht im Flur anging. Wie erstarrt blieb Sam stehen.
»Sie werden uns zurückbringen«, piepste er. Seine Unterlippe zitterte, die Augen füllten sich mit Tränen.
»Nein! Werden sie nicht!« Blake wusste nicht, wie er es verhindern sollte, hatte keine Ahnung, wie er seinen Bruder in Sicherheit bringen konnte. Nur eins war ihm klar: Er würde alles tun, um zu verhindern, dass Sam noch einmal auf eine Liege geschnallt wurde.
Er packte die Hand seines Bruders, zog ihn mit sich, rüttelte an den Türen, bis er eine fand, die unverschlossen war. Er schubste Sam in das Büro, schlüpfte hinter ihm in den Raum und verriegelte die Tür. Für eine Sekunde lehnte er sich gegen das Holz und durchsuchte das Zimmer mit seinem Blick. Aktenschränke, ein klobiger Schreibtisch mit zwei Stühlen davor, ein weiterer dahinter, direkt vor dem Fenster.
Das Fenster!
Entschlossen ging er darauf zu und spähte hinaus. Die Dunkelheit, die draußen herrschte, verzerrte die Sicht. Im Mondlicht konnte Blake nur schätzen, wie weit das schmale Sims, das sich um das Gebäude zog, unter ihnen lag. Aber es schien breit genug zu sein.
»Ich habe einen Weg nach draußen gefunden«, sagte er zu Sam. »Nur müssen wir klettern.«
»Okay.«
»Geh zur Seite!«
Blake wartete, bis sein Bruder weit genug hinter ihm stand, bevor er nach einem Stuhl griff und ihn gegen die Scheibe warf. Klirrend splitterte das Glas.
Sofort winkte er Sam zu sich. »Siehst du das Sims da unten?« Sam nickte. »Ich halte dich fest, während du hinabsteigst! Dann gehst du bis zu der Feuertreppe an der Ecke«, erklärte Blake.
Sam zögerte.
»Beeil dich«, trieb Blake ihn an. »Martins Männer werden gleich hier sein!«
Er betete, dass ihnen genug Zeit blieb. Das Splittern der Scheibe war viel zu laut gewesen.
Als hätte dieser Gedanke etwas ausgelöst, bewegte sich der Türknauf. Aufgeregte Stimmen erklangen dahinter.
»Hier drin! Wir brauchen den Universalschlüssel!«
»Vergiss den Schlüssel, das dauert zu lang. Schlagt die Tür ein!«
Fluchend begegnete Blake Sams gehetztem Blick. »Los jetzt!«
Ihm blieb keine Zeit, um Rücksicht zu nehmen. Er hob Sam auf das Fensterbrett. »Keine Angst, ich halte dich.«  
»Ich schaff das schon«, murmelte Sam, während er über den Rahmen kletterte.
Blake beobachte, wie sein Bruder das Gesicht verzog, als ihm die winzigen Splitter, die noch im Rahmen steckten, in die Hände schnitten. Er lehnte sich weiter aus dem Fenster, bereit, ihn notfalls zu stützen.
Sams Füße berührten das Sims. Ein Lächeln glitt über seine Lippen. Er löste seine Hände von dem Rahmen und trat einen Schritt zur Seite. Dabei achtete er nicht auf die Scherben, die auf dem Sims lagen.
Hilflos sah Blake, wie das Lächeln seines Bruders schwand und er nach hinten kippte. Er warf sich nach vorne, streckte die Arme aus und packte Sams Handgelenk. Im gleichen Augenblick brüllte er auf. Eine der Scherben, die noch im Rahmen steckte, bohrte sich in seine Seite. Der Schmerz war vernichtend.