Ein illegales Labor, ein skrupelloser Geschäftsmann und zwei Brüder auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit.
»Ich wollte einen Neuanfang. Ein Leben ohne die Erinnerungen an das Labor. Das war ein Fehler.«
Um ein neues Leben zu beginnen, hat sich Sam McLain von allem losgesagt. Selbst von seinem Bruder Blake. Doch Sams Vergangenheit lässt sich nicht einfach abschütteln. Schon bald trifft er auf einen alten Feind. Im Versuch, das Richtige zu tun, bleibt Sam nur eine Wahl: der Verrat an seinem Bruder …
Leseprobe Sam McLain: Verrat (Die McLain Reihe 2)
Prolog
New Jersey März 1999
»Lust auf ein Spiel, Sammy?«
Obwohl ihm nicht kalt war, hatte Sam die Arme fest um die angewinkelten Knie geschlungen und zitterte. Die Wand in seinem Rücken bot ihm keinen Schutz vor der Furcht, die in ihm wütete.
Er versuchte, in der Dunkelheit um sich herum etwas zu erkennen, lauschte auf die leisen Atemzüge. Hoffte, sie würden ihm einen Hinweis geben, an welcher Stelle des Zimmers sich Jack aufhielt.
Eine Gänsehaut lief über seine Arme, als er ein leises Klirren hörte. Es klang wie Schlüssel, die aneinanderschlugen.
Er drückte sich tiefer in seine Ecke, während er das Geräusch von Schritten vernahm und biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu wimmern.
»Ich hab dich etwas gefragt!«
Sam wollte nicht antworten, doch ebenso wenig wollte er, dass Jack noch wütender wurde. Trotz seiner sieben Jahre, wusste Sam, dass Jack dann noch unberechenbarer wäre.
»Lass mich in Ruhe«, bat er.
Keine Antwort. Stattdessen schoss aus dem Nichts eine Hand hervor, packte ihn am Arm und stieß ihn in die Mitte des Raumes, wo er stolperte und schließlich zum Stehen kam.
»Wenn ich dir eine Frage stelle, hast du eine vernünftige Antwort zu geben!«, zischte Jack hinter ihm.
Jeglicher Orientierung beraubt, kauerte Sam sich zusammen.
»Ich will nicht spielen«, flüsterte er, unfähig genug Luft zu holen, um lauter zu sprechen.
Die Ohrfeige war nicht hart, aber die Finsternis um ihn herum machte sie zu etwas Bedrohlichem.
»Falsche Antwort, Sammy.«
Der leichte Singsang–Ton in Jacks Stimme machte es ihm schwer, ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Bitte, geh weg.«
»Das werde ich«, versprach Jack zu seiner Überraschung. Wieder klimperte es. »Hörst du die Schlüssel?«
Verunsichert gab Sam ein zustimmendes Geräusch von sich.
»Sobald du sie gefunden hast, lasse ich dich hier raus. Vorher nicht.«
»Ich will nicht.«
Sofort traf ihn ein Tritt in den Rücken.
»Das war keine Bitte!«
Schluchzend kroch Sam durch den Raum. Weg, nur weg von Jack, dessen Lachen von den Wänden hallte. Er wusste, dass sein Fluchtversuch vergeblich sein würde. Doch er kam nicht gegen den Instinkt an, der ihm zuschrie, er solle sich in Sicherheit bringen.
Beinahe hätte er erneut aufgeschluchzt. Es gab keine Sicherheit im Labor.
Schon spürte er, wie er am Kragen gepackt und in die Luft gehoben wurde.
»Weißt du, dass es hier einen Abgrund gibt, Sammy? In einer Ecke des Raumes geht es steil bergab. Ich glaube nicht, dass du den Sturz überleben würdest.«
Panisch umklammerte er Jacks Handgelenke »Bitte, ich hab nichts gemacht. Lass mich los!«
Ruckartig ließ Jack von ihm ab, und Sam landete auf allen vieren.
»Dann sei ein braves kleines Hündchen und such die Schlüssel. Wenn du sie gefunden hast, lasse ich dich raus, und du sagst Blake, ich dulde kein Nein.«
Die Angst trieb Sam dazu vorwärts zu krabbeln, wobei er mit einer Hand über den Boden tastete. So lange, bis er am Fußknöchel gepackt und ein Stück durch den Raum gezogen wurde.
»Was sollst du deinem Bruder ausrichten?«
»Dass du kein Nein duldest«, quietschte Sam.
Jack schnalzte mit der Zunge. »Wie kann ein so kluger Junge wie du nur in solche Schwierigkeiten geraten«, erkundigte er sich sanft. »Weißt du es, Sammy?«
»Nein.«
Wieder klimperte Jack mit dem Schlüsselbund. »Blake ist schuld daran. Nur seinetwegen bist du hier. Such den Schlüssel.«
Zitternd begann Sam erneut den Raum abzusuchen. Er erstarrte, als sich eine Stiefelsohle auf seine Hand senkte.
»Wer ist schuld, dass du hier drin bist, Sammy?«
»Dr. Martin!«, fauchte Sam, trotz seiner Angst.
Jack verstärkte den Druck auf seine Finger. »Falsch! Wer ist schuld?«
Sam kämpfte gegen die Schmerzen, die sich in seinen Fingern ausbreiteten, antwortete aber dennoch: »Es ist die Wahrheit. Dr. Martin ist schuld! Was bringt es dir, wenn ich lüge?«
Jack trat fester zu.
Sam spürte, wie ein Fingerknochen mit einem leisen Knacken nachgab. Das Geräusch war beinahe schlimmer als der Schmerz, der folgte, sodass er aufschrie.
»Wer, Sammy? Wer ist wirklich schuld?«
Er wollte es nicht sagen. Aber letztendlich waren es nur Worte und die Angst fegte seinen Widerstand fort.
»Blake«, keuchte er. Mittlerweile liefen ihm Tränen über die Wangen. »Blake ist schuld.«
Jack nahm seinen Fuß weg. »Willst du hier raus, auch ohne den Schlüssel gefunden zu haben?«
Sam umklammerte seinen pochenden Ringfinger. Mehr als ein Nicken brachte er nicht zustande.
»Was bist du bereit, dafür zu tun, Sammy?«
Sam verstand nicht, was Jack von ihm wollte. Er hatte nichts, was er ihm geben konnte.
»Was willst du denn haben?«
»Du gehst hier raus, ohne dass dich wer aufhält oder dir etwas tut. Dann gibst du Blake die Spritze und sagst ihm, er soll sie sich setzen.«
Sam wich wieder zurück. »Nein! Dann bleibe ich hier!«
Jack setzte ihm nach, ergriff ihn und stieß ihn gegen die nächste Wand. »Du bist ein kluger Junge, Sam. Ich weiß, dass du es tun wirst. Du weißt es ebenso. Die Frage ist nur: Wie viel wirst du einstecken müssen, bevor du ja sagst?«
Sam starrte in die Dunkelheit. »Bitte, das kann ich ihm nicht antun!«, flehte er.
Jack ohrfeigte ihn. »Du kannst und du wirst!«
Sam brachte kein Wort mehr hervor. Er wollte zu Blake, aber die Scham vor dem, was er dafür tun sollte, hielt ihn zurück.
»Du kannst auch versuchen, die Schlüssel von mir zu holen, Sammy. Glaubst du, du schaffst es, bevor ich dir einen zweiten Finger breche? Und dann einen Dritten, einen Vierten …? Nur damit ich dich dann hier drin verrotten lasse.«
Sam weinte hemmungslos, als er endlich aufgab. »Ich tu es, aber bitte lass mich gehen!«
»Weißt du, was ich mit dir mache, wenn du mich anlügst?«
Sam schüttelte den Kopf. Er hörte, wie Jack sich bewegte, dann klickte etwas neben Sams Ohr, was sich verdächtig nach einem Springmesser anhörte. Jacks Lieblingswaffe, die er immer zog, wenn jemand eine Grenze übertreten hatte. Jack hatte sie noch nie eingesetzt, dennoch hatte keiner es je gewagt, ihn weiter herauszufordern, sobald er sie in der Hand hielt. Die unausgesprochene Drohung und das Wissen um die rasiermesserscharfe Klinge direkt neben seinem Gesicht gaben Sam den Rest.
»Ich lüge dich nicht an, Jack! Ich verspreche es. Ich sage ihm alles, was du zu mir gesagt hast!«
Das Zittern wurde heftiger, als Jack von ihm abließ und sich seine Schritte entfernten. Dann wurde die Tür geöffnet. Wie ein Ertrinkender stolperte Sam auf den Lichtstrahl zu, obwohl er Jacks bedrohliche Silhouette daneben ausmachen konnte.
»Lass uns zu Blake gehen, damit du ihm ein kleines Geschenk überreichen kannst.«
Durch den Schleier aus Tränen sah Sam nur Schemen vor sich auftauchen, während er vor Jack her taumelte. Sie hielten kurz an. Jack redete mit jemandem und drückte ihm dann eine Spritze in die Hand.
»Du weißt, was zu tun ist!«
Erst als Jack ihn in einen Raum stieß, begriff Sam, dass er bei Blake war. Er rappelte sich auf und stürzte auf seinen Bruder zu.
»Sammy!«
Blake sprang von der Pritsche und kam ihm entgegen. Im nächsten Augenblick fand Sam sich in den schützenden Armen seines Bruders wieder, und alle Dämme brachen.
»Hey, ist ja gut«, hörte er Blake sagen. »Du bist wieder hier. Es ist alles in Ordnung.«
Ausnahmsweise zeigte die vertraute Stimme seines Bruders keine Wirkung.
»Was haben sie dir getan?«, wollte Blake wissen.
Sam hörte ihn kaum. Er war zu keinem klaren Gedanken fähig, wollte nur weg von der Angst, der Dunkelheit und Jack. Immer wenn er glaubte, sich beruhigt zu haben, begann er erneut zu weinen. Er klammerte sich so fest an Blake, dass er fürchtete, ihm wehzutun. Loslassen konnte er nicht.
»Sam!« Blake drückte ihn ein Stück von sich fort, um ihn ansehen zu können. Sorgenfalten überzogen sein Gesicht, als er ihn von oben bis unten musterte. »Erzähl es mir«, flüsterte er.
Sam streckte bebend die Hand aus. »Jack hat gesagt, er akzeptiert kein Nein. Du sollst die Spritze nehmen, sonst … sonst nimmt er mich wieder mit.« Wieder begann er zu schluchzen. »Ich will nicht zurück!« Er schniefte. »Aber … aber ich will auch nicht, dass du …«
Blake starrte auf die Spritze, dann wieder in das Gesicht seines Bruders. Als Sam sah, wie seine Worte auf Blake wirkten, wäre er am liebsten zurück zu Jack gelaufen, um ihm zu sagen, er solle ihm noch einen Finger brechen. Eine ungewohnte Leere lag in Blakes Blick, dahinter die unausgesprochene Frage, warum er das von ihm verlangte.
Sams Hand begann zu zittern, als hätte sie ein Eigenleben. Drückende Stille erfüllte den Raum. Nach einer kleinen Ewigkeit schwand der seltsame Ausdruck in Blakes Augen und er griff nach der Injektion.
Während Blakes Hand sich um die Spritze schloss, wollte Sam sie zurückziehen, doch er konnte sich nicht regen. Er registrierte erst, dass Blake ihn abermals an sich gezogen hatte, als er dessen beruhigenden Geruch und seine leise Stimme wahrnahm.
»Es ist okay, Sammy. Er wird dir nicht mehr wehtun. Nicht heute.«
Sam löste sich aus Blakes Arm und kroch auf das Bett seines Bruders. Dort quetschte er sich in die Ecke, bis er das Gefühl hatte, kaum noch sichtbar zu sein.
»Es tut mir leid«, wimmerte er.
Obwohl Blake es zu verbergen versuchte, bekam er mit, wie sich die Nadel in dessen Armbeuge senkte und er den Kolben herunterdrückte. Tief in sich wusste Sam, er hatte seinen Bruder verraten.